Jeder einzelne Mensch ist in die Zeit und die Welt geworfen. In ein Da-Sein genauso wie in ein So-Sein. In ein komplexes Geflecht aus kulturellen Bedingungen, gesellschaftlichen, religiösen, ethischen Normen, in einen vorgefundenen Platz, in einen je individuellen Möglichkeitsrahmen: in eine ihm zugehörige, spezifische Variante der vorfindlichen Lebenswelt, die ihrerseits eingebunden ist in ein weltumspannendes Geflecht unzähliger Lebenswelten.
Als sei das nicht genug sind all diese Lebenswelten und, in uns, alle lebensweltliche Individuationen nie konstant, sondern immer fluid. Sie ändern sich beständig, nie gleichzeitig in gleicher Weise, sondern immer und überall asynchron und bei jedem Einzelnen anders. Und sei es auch nur zart nuanciert. Zudem ändern sich die Ausprägungen der Lebenswelten laufend in jeder Zeitachse, sowohl in der diachronen als auch der synchronen. Und auch hier wieder, heruntergebrochen auf jeden Einzelnen, nie konstant, nie in gleicher Weise, ja: gegebenenfalls sogar von Tag zu Tag anders, abhängig von jedem Ereignis oder individueller physischer und psychischer Tagesverfassung, vom spezifischen Kontext oder sozialen Umfeld.
So gesehen ist der Einzelne de facto dem Sein, der Zeit, der Welt, seinen intersubjektiven Verhältnissen und Konstellationen et all. „unterworfen“, lat. subicere. Insofern ist er „Subjekt“ – aber nicht das Subjekt1, das er seit Descartes meint zu sein und das bereits in Gottes Auftrag an uns, uns die Welt untertan zu machen, sie also mithin zu unterwerfen, angelegt war. Dieses „Subjekt-Sein“ wird durch die harten Fakten der Realität ins Gegenteil verkehrt: Ich bin als Mensch immer schon der Welt „unterworfen“. Bin also nie freivon ihrer Abhängigkeit und als Unterworfener, als „Subjekt“, auch nie freiin meinen Handlungen:
Wie kann ich nun als dieses „Subjekt“, als Geworfener, Unterworfener, gleichzeitig „Subjekt“ sein, Unterwerfender, Entwerfender, Gestaltender?
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2006
Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.
1Die Dinge stellen sich oftmals ganz anders dar, als sie uns heute erscheinen: Für den bedeutenden mittelalterlichen Nominalisten William of Ockham war das ‚Sein der Dinge’, unserer Objekte, esse subiectivum. Und das ‚Sein der Gedanken im Geiste’, im Subjekt, esse obiectivum.