KURZE SÄTZE

 

Manchmal beginnt ein Urknall eher unscheinbar. Und zeitgleich zum 7. Welttag der Poesie. Twitter wird am 21. März 2006 unter dem Namen twttr gegründet und gewann weltweit rasch an Popularität: Der erste Tweet wurde am 21. März 2006 durch den Twitter-Mitgründer Jack Dorsey mit dem Satz „just setting up my twttr.“ verschickt.

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

Roland Barthes

Technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Bisher bilden die kleinen Formen, die in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte, Feuilleton und natürlich der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Bestand die Modernität der lakonischen Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.

Die Redaktion bat Holger Benkel um einen Rezensionsessay zum Aphorismus:

ANTIKE APHORISTIKER

der arzt hippokrates, der im fünften und vierten jahrhundert vor angenommener zeitrechnung wirkte, der vater der modernen medizin, gilt als erster aphoristiker. kann der aphorismus, kurz und knapp, heilen? hippokrates erkannte: »Die wirksamste Medizin ist die natürliche Heilkraft, die im Innern eines jeden von uns liegt.«, »Alles Übermäßige verstößt gegen die Natur.«, »Durch Enthaltsamkeit und Ruhe werden viele Krankheiten geheilt.«, »Der beste Arzt scheint der zu sein, der sich auf Voraussicht versteht.« und, sprichwörtlich geworden, »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.« aphorismen können lebensrat geben. der skeptiker emile m. cioran erwiderte fast 2500 jahre später: »Eine umfassende Bildung ist eine gut dotierte Apotheke, aber es besteht keine Sicherheit, daß nicht für Schnupfen Zyankali gereicht wird.« aphorismen dürfen übertreiben.

ein noch wichtigerer aphoristiker der antike war heraklit, von dem wir sätze kennen wie: »Nichts ist, alles wird.«, »Alles fließt, nichts bleibt.«, »Das Unähnliche ist miteinander verwandt.«, »Augen sind genauere Zeugen als Ohren.«, »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.«, »Du wirst die Grenze der Seele nicht entdecken, egal wie weit du gehst.«, »Der Herr, dessen Orakel zu Delphi ist, spricht nicht aus und verbirgt nicht, sondern gibt ein Zeichen (be-deutet).« plutarch, in seinen letzten 30 lebensjahren orakelpriester am apollontempel delphi, bemerkte: »Von den Menschen lernen wir reden, von den Göttern schweigen.«, »Der Geist ist kein Gefäß, das man füllt, sondern ein Feuer, das man nährt.«, »Der Menge gefallen, heißt den Weisen mißfallen.« und »Wer wenig bedarf, kommt nicht in die Lage, auf vieles verzichten zu müssen.« mark aurel, der letzte bedeutende philosoph der stoa, ganzheitlich und gelassen denkend, und römischer kaiser, empfahl: »Arbeite an deinem Innern. Das ist die Quelle des Guten, wenn du nur nach gräbst.«, »Diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen der eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück.«, »Ohne Anmaßung nimm an, ohne Bedauern gib hin.« und »Die beste Art, sich zu wehren, ist sich nicht einzugliedern.«

SALOMO

man kann, oder sollte, auch könig salomo, im »Alten Testament« als autor vom »Buch der Sprichwörter« genannt, das volksaufklärerisch erzieherische funktionen hatte, zu den aphoristikern zählen. viele seiner sprüche wurden zunächst durch mündliche überlieferung weitergegeben und ihm später zugeordnet. »Das Buch der Weisheit«, griechisch »Weisheit Salomos«, eine alttestamentliche spätschrift, wurde in der tradition jüdischer weisheitslehrer verfaßt, ist zugleich griechisch beeinflußt und stammt wahrscheinlich aus dem hellenistischen alexandria.

salomo zugeschriebene gedanken sind: »Besser wenig und gerecht / als viel Besitz und Unrecht.«, »Besser ein Gericht Gemüse, wo Liebe herrscht, / als ein gemästeter Ochse und Hass dabei.«, »Hochmut erniedrigt den Menschen, doch der Demütige kommt zu Ehren.«, »Die Güte eines Menschen kommt ihm selbst zugute, / der Hartherzige schneidet sich ins eigene Fleisch.«, »Reichtum hilft nicht am Tage der Zorns, aber Gerechtigkeit rettet vor dem Tod.«, »Früh vollendet, hat der Gerechte doch ein volles Leben gehabt; / da seine Seele dem Herrn gefiel, / enteilte sie aus der Mitte des Bösen.« elias canetti bekannte im 20. jahrhundert: »Lieber verachtet sein als gefürchtet.« von salomos sprüchen finden sich einige, teils leicht verändert, unter den deutschen sprichworten, so »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« und »Hochmut kommt vor dem Fall.«, das später auch auf den übermütigen ikarus bezogen wurde. der satz »Alles ist eitel.« soll ebenfalls von salomo stammen.

salomo nannte die weisheit, über die er wie von einer geliebten oder gefährtin sprach, heilig, einzigartig, gedankenvoll, mannigfaltig, beweglich, durchdringend, klar, scharf, zart, unbefleckt, unverletztlich, das gute liebend. freilich vertrat er, vor 3000 jahren, eine autoritäre ordnung: »Halt fest an der Zucht und lass davon nicht ab, / bewahre sie / denn sie ist dein Leben.«, »Wer Zucht liebt, liebt Erkenntnis, / wer Zurechtweisung haßt, ist dumm.« karl kraus entgegnete: »Zucht ist der Anstand der Mittelmäßigkeit.« salomo entsprach einer dualistischen moral: hier die gerechten, tugendhaften, lauteren, tapferen, verständigen, einsichtigen, klugen und weisen, da die frevler, lasterhaften, zuchtlosen, hochmütigen, neidischen, zornigen, unehrlichen und faulen.

JESUS UND DIOGENES

die sprüche eines anderen aphoristikers des altertums, jesus von nazareth, menschenfreund und utopist, erinnern in machart und inhalt an die salomos, aus dessen denkwelt er manches aufnahm. das »Neue Testament« verwendet gleichfalls hebräische und aramäische spruchweisheiten, die mündlich überliefert wurden. und es gibt ebenso hellenistische einflüsse. in der »Bergpredigt« heißt es: »Selig sind, die da Leid tragen: denn sie sollen getröstet werden.«, »Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.«, »Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.« außerdem rät das »Neue Testament«: »Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.«, »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.«, »Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten sein und die Letzten werden die Ersten sein.«

hier entsteht paradoxie, indem etwas beteuert wird, anderswo gefordert, das im wirklichen leben meist anders oder sogar umgekehrt ist. tatsächlich sind die behauptungen utopisch. selbst der skeptische friedrich dürrenmatt ahnte: »Der Wissende weiß, daß er glauben muß.« postulate lassen sich freilich mißbrauchen. friedrich nietzsche stellte fest: »Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.« und »Das Gute mißfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.«, hugo von hofmannsthal, der moralische sieger siege sich am leichtesten zu tode.

man könnte jesus auch als messianisch aufgeladenen diogenes betrachten. über letzteren wurde erzählt: »Tagsüber zündete er eine Laterne an und rief „Ich suche einen Menschen!“« und »Gefragt, weshalb man Bettlern was gibt, Philosophen aber nicht, antwortete er: „Weil man es für möglich hält, selbst einmal lahm oder blind, niemals aber Philosoph zu werden.“« eine gestalt wie der kyniker diogenes kann verachtet und erschlagen, unter bestimmten umständen aber auch zu einem anführer und leitbild werden. ketzer und heilige, mystiker und revolutionäre gehen ineinander über. »Wäre Diogenes nach Christus geboren, er wäre ein Heiliger geworden.«, behauptete cioran, »Ein Heiliger ist ein Sünder, bearbeitet und neu herausgegeben.« ambrose bierce. zu den moralisten unter den aphoristischen autoren, die menschen und deren verhältnisse bessern wollten und sich vor allem zum menschlichen verhalten äußerten, gehören wertebewahrer wie michel de montaigne, francis bacon, baltasar gracian, françois de da rochefoucauld, marie von ebner-eschenbach und hofmannthal. christian dietrich grabbe hingegen notierte: »Wer oft gehofft hat, lernet fürchten.«

karl marx analysierte: »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.«, »Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.«, »Das Geld ist nicht eine Sache, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis.«, »Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Wesens, und dieses fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.«, »Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.«, »Es ist nicht genug, eine Revolution zu machen; es kommt darauf an, sie zu verändern.«

TECHNIKEN

aphoristische techniken, meist schon in der antike ausgeprägt, sind metaphorik, ungewöhnlicher vergleich, hyperbel, parallelismus, doppelsinn, alogismus, paradoxon, wortspiel, pointe, anti-these. kraus hob hervor: »Eine Antithese sieht bloß wie eine mechanische Umdrehung aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben, Erleiden, Erkennen muß erworben werden, bis man ein Wort umdrehen darf!« und »In der Schöpfung ist die Anti-These nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft Raum für die Sucht, die in jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild sucht.«, walter benjamin: »These und Anti-These zu zeigen, ist gut, eingreifen kann aber nur, wer den Punkt erkennt, an dem das eine in das andere umschlägt, da das Positive im Negativen und das Negative im Positiven zusammenfallen.«

das wort aphorismus, ursprünglich zurückgehend auf altgriechisch aphorismós = abgrenzung, definition, abgeleitet von aphorízein = von etwas abgrenzen, genau bestimmen, unterscheiden, vom horizont abheben, auswählen, wurde im 19. jahrhundert ins deutsche vokabular aufgenommen. aphorismen unterscheiden, indem sie etwas erkennen lassen wie den himmel oder mond hinter aufgerissnen wolken, wenns gelingt sogar über den horizont hinaus. umgekehrt betrachten sie, zumal als kurze sätze, mikrokosmos und innenräume.

zum aphorismus gehören paradoxien. man könnte fragen, ob es überhaupt originelle gedanken gibt, die nicht paradox sind. cioran schrieb: »Wo Paradoxie aufscheint, erlischt das System und obsiegt das Leben.«, dürrenmatt: »Wer dem Paradox gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.«, kraus: »Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Erkenntnis mit dem Unsinn der Zeit zusammenprallt.« kann paradoxie vernünftig werden, wenn vernunft paradox wird?

manche aphorismustheoretiker behaupten, viele gedanken, die unterm namen aphorismus erscheinen, seien gar keine aphorismen. literaturtheorie kann regeln immer nur aus den werken heraus, also nachwirkend, formulieren und nicht vorauseilend programmatisch. selbst schriftsteller lösen ihre theoretische programmatik nur zu geringen teilen ein, wenn man etwa an die fragmente der jenaer frühromantik oder die manifeste der dadaisten, surrealisten und futuristen denkt. ich bin überhaupt mißtrauisch, daß man aus vorhandener literatur regeln entwickeln soll, an denen sich künftige autoren orientieren sollen. soetwas führt eher zu bloßer nachahmung und stagnation. man darf aphorismen nach reinheitsgebot schreiben, sollte das jedoch nicht zur theorie für andere machen. aphorismen fallen einem nicht nach dienstvorschrift, sondern spontan ein. alle wichtigen aphoristiker folgen formen, die dem gesagten entsprechen, und nicht theorievorgaben. entscheidend ist die originalität der gedanken. allerdings lassen sich überlieferte formen so verinnerlichen, daß sie dann im moment eines einfalls abgerufen werden können. schließlich entstehen und wirken aphorismen literarisch und geistig.

gemeinsamkeiten gibt es mit gnomen, sentenzen, maximen, sinnsprüchen, lebensweisheiten, sprichworten, geflügelten worten, also befiederten gedankenpfeilen, redewendungen, epigrammen, aperçus und bonmots. griechisch gnṓmē, das man etwa bei paulus findet, dem griechisch gebildeten juden mit römischen bürgerrechten und missionar des urchristentums, bedeutet einsicht, deutsch gnome erkenntnisvermögen, verstand, vernunft, geist. das lateinische wort dafür ist sententia. »Sentenzen kehrt man um wie Handschuhe. Sie tragen sich von beiden Seiten.«, bemerkte grabbe. deutsch maxime, französisch leitspruch, meint meist moralisch grundierte gedanken, so bei johann wolfgang goethe. martial gilt als begründer des epigramms in der lateinischen antike. friedrich schlegel äußerte: »Das Beste an Martial ist, was catullisch scheinen könnte.«

das hinterfragen von sprichworten gehört ebenfalls zum aphoristischen denken. zugleich können aphorismen zu sprichworten werden. das sprichwort, bauernregel und wetterspruch inbegriffen, das allgemein geglaubte auffassungen vermittelt, wurde oft vom volksmund überliefert. bereits die griechen des altertums sammelten sprichworte und stellten sie zusammen. manche antike sprichworte sind durch bildungsvermittlung zu deutschen geworden, »Eulen nach Athen tragen.«, »Der Hydra den Kopf abschlagen.«, »Dem Ariadnefaden folgen.«, oder sprichbegriffe wie der »Ödipuskomplex« von sigmund freud. bei sprichworten ist eher selten noch ermittelbar, wie und wo und durch wen genau sie entstanden. die wenigsten verweisen auf gesicherte konkrete historische hintergründe. in neuerer zeit verbreiten sich sprichworte und sprichbegriffe stärker durch medien und werbung.

LICHTENBERG

kraus ließ wissen: »Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner, aber er kommt nicht wieder hinauf. Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.« georg christoph lichtenberg, mathematiker und (experimental)physiker, der urmeister des deutschen aphorismus, der das freie denken verkörpert, konnte krumm denken, da er einen buckel hatte, an dem er systemdenker runterrutschen ließ. er spürte: »Sobald einer ein Gebrechen hat, hat er eine eigene Meinung.« cioran berichtete: »Ich bin noch keinem interessanten Geist begegnet, der nicht mit uneinstehbaren Defekten behaftet war.«, und ergänzte, »Jeder Beginn einer Idee entspricht einer unmerklichen Verletzung des Geistes.«

lichtenberg wollte eigentlich keine aphorismen schreiben, also einer form entsprechen, sondern notierte einfach gedanken. seine postum erschienenen »Sudelbücher«, insgesamt etwa 10000 notizen, enthalten beobachtungen, reflexionen, aphorismen, maximen, epigramme, »eine ganze Milchstraße von Einfällen.«. mit ihm befinden wir uns im zentrum der aufklärung. bei lichtenberg kann man erkennen, was sich seit salomo entwickelt hat, die skepsis und das relativieren. dogmen und lehrsätze rief lichtenberg meist bloß auf, um sie zu hinterfragen. er betrachtete auch schon die aufklärung und deren wirkungen ungläubig und kritisch, wie später theodor w. adorno und max horkheimer in »Dialektik der Aufklärung« sowie adorno in »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«. abstrakten denksystemen sowie dualistischen denkweisen oder gar weltbilder mißtraute lichtenberg. man findet bei ihm schärfe und tiefe, klarheit und paradoxie, entschiedenheit und zweifel, humor und ironie.

angeregt und beeinflußt hat lichtenberg jean paul, arthur schopenhauer, nietzsche, freud, kraus, thomas mann, kurt tucholsky, benjamin und viele andere. bereits jean paul, gleichfalls einer der wichtigsten deutschen aphoristiker, schätzte lichtenberg sehr. kraus bemerkte: »Einer zitierte Jean Pauls Wort, daß jeder Fachmann in seinem Fach ein Esel sei. Er war nämlich in allen Fächern zuhause.« neben den bereits erwähnten aphoristikern wären laotse, konfuzius, jonathan swift, voltaire, oscar wilde, george bernard shaw, friedrich schiller, ludwig börne, friedrich hebbel, paul valéry und stanislaw jerzy lec zu nennen. man könnte aus dem werk vieler bedeutender schriftsteller und philosophen sätze zitieren, die aphoristisch sind. canetti sah: »Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie alle einander gekannt hätten.«, friedrich schlegel, witzige einfälle, »die Sprichworte der gebildeten Menschen«, seien wie das überraschende wiedersehen befreundeter gedanken nach einer langen trennung.

ANSPRUCH

aphorismen sind eine ohne weitere erklärungen wirkende literarische kleinform, die von der wünschelrute des erkennens gefundene gedankenfunken, der faden der gedanken ist ein funkenflug, und gedankenblitze auf den punkt bringt, schlaglichtartige erkenntnisse, die scheinbare endpunkte von gedankenketten formulieren sowie neue fragen aufwerfen und so zum nachundweiterdenken herausfordern und anregen. lichtenberg empfahl, man solle »nicht sagen ich denke, sondern es denkt, wie man sagt es blitzt.« das betont die plötzlichkeit eines einfalls. hebbel wußte, man sieht die leuchtenden sternschnuppen nur, wenn sie verglühn.

aphoristisch denken bedeutet selbst denken, unabhängig von vorgegebenen reglements gleich welcher art. geistreich, nachdenklich, fragend, präzise, konzentriert, relativierend, illusionslos, ironisch, pointiert, lakonisch, sarkastisch, zugespitzt und polemisch experimentieren aphoristiker mit wahrnehmungen und vorstellungen. kraus postulierte: »Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen.«

aphoristisches denken kann die blickwinkel wechseln, damit aus verschiedenen perspektiven eine differenzierte und verdichtete ganzheit der betrachtung entsteht. franz kafka schrieb in seinen aphorismen und denkbildern aus dem böhmischen zürau, heute siřem, wo er 1917/18 acht monate lebte: »Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.«, »Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.« und »Nur unser Zeitbegriff lässt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« daneben liegt die »Strafkolonie«.

zum paradies meinte kafka, es existiere unzerstörbar, nur der mensch sei daraus vertrieben. diese vorstellung nähert sich der gnostischen vom fremden und fernen gott. der noch nicht erschienene jüdische messias entspricht seitenverkehrt kafkas paradies. skepsis kann zu gnostischen gedanken führen, wie bei cioran. peter sloterdijk erkannte: »In den schwersten Krisen der Welt schützen Gnosen aller Art das Leben vor der Versuchung der Anpassung an das, was kein Leben mehr wäre.«, »Die gnostische Ironie gegen die Schöpfung nahm die romantische gegen den Text vorweg.«, »Gnosis ist eine Philosophie des Als-Ob-Nicht«, »Wenn Prophetismus scheitert, entsteht Apokalyptik; scheitert Apokalyptik, so entsteht Gnosis.«, oder umgekehrt. die reihenfolgen wechseln innerhalb der geschichte. die tragödie kann auch der farce folgen. oder beide treten gleichzeitig auf.

KÜRZE

jean paul schrieb: »Sprachkürze gibt Denkweite.«, wenn das komprimierte treffend umfaßt. kraus äußerte, es gäbe »Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.« wer aphorismen schreibe, solle sich nicht mit aufsätzen zersplittern. in aphorismen findet man, indem ironie von kürze lebt, mehr ironisches als in essays. dürrenmatt nannte einen tragischen grund für verknappungen: »Wem der Tod nach der Gurgel greift, der macht nicht viele Worte.«

heiner müller montierte in den monaten vor seinem tod, schon schwer krank, extrem kurze gedanken, so in seinem langgedicht »Ajax zum Beispiel«: »Brechts Denkmal ist ein kahler Pflaumenbaum.«, »Die Staatsgewalt geht vom Geld aus.«, »Arbeit macht unfrei.«, »die Zeit steht als Immobilie zum Verkauf.«, »Das letzte Kriegsziel ist die Atemluft.«, »Das letzte Programm ist die Erfindung des Schweigens.« aphoristisch knapp klingen jedoch auch andere gedanken müllers: »Die Kunst ist dazu da, die Wirklichkeit zu verhindern.«, »Genies treten nicht in Rudeln auf.«, »Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche.«, »Wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel.« schriftsteller, die konsequent objektivieren, sind oft traumatisierte.

DER SKEPTISCHE BLICK

zum aphorismus gehört skepsis, die das denken auch polemisch macht. friedrich schlegel spürte: »Wenn Verstand und Unverstand sich berühren, so gibt das einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.« andererseits sind skeptiker oft einzelgängerisch veranlagt. börne notierte: »Große und neue Gedanken gewinnt man nur in der Einsamkeit.« und »Große Geister sind die Solospieler im Konzerte der Welt, ihre Kadenzen unterbrechen den einförmigen Takt der Lebensmusik.«

cioran, mißtrauisch gegenüber allen denksystemen und an pessimismus kaum zu übertreffen, entwickelte sein eigenes distanziertes und verneinendes denken, das die realität ohne illusionen sah. wer bei ihm licht am ende des tunnels sehen will, muß sich umdrehen und rückwärts schauen, bis ihn frühere hoffnungen überfahren. susan sontag erklärte: »Befreiung liegt selbstverständlich kaum in Ciorans Absicht. Sein Ziel heißt Diagnose.«, »Philosophie wird zum gemarterten Denken. Ein Denken, das sich selbst verschlingt − und trotz (oder vielleicht wegen) dieser wiederholten Akte des Selbstkannibalismus unbeschädigt fortbesteht und sogar gedeiht.«

bei cioran findet man gedanken wie: »In jedem Propheten wohnen gleichzeitig die Lust auf Zukunft und die Abneigung gegen das Glück.«, »Frei sein heißt, sich auf ewig von der Idee der Belohnung lösen, nichts von den Menschen noch den Göttern erwarten, es heißt, nicht nur auf diese Welt und auf alle Welten verzichten, sondern auf das Heil selber, es heißt sogar, seine Vorstellung zerbrechen, diese Kette der Ketten.«, »Wenn man begriffen hat, daß nichts ist, daß die Dinge nicht einmal den Status des Anscheins verdienen, so hat man nicht mehr nötig, gerettet zu werden, man ist auf alle Zeit gerettet und unglücklich.«, »Die Verweigerung der Geburt ist nichts anderes als die Sehnsucht nach der Zeit vor dieser Zeit.«, »Ich möchte frei sein, aufs äußerste frei. Frei wie ein Totgeborener.«, »Es tut wohl zu denken, daß man sich töten wird. Kein Thema ist beruhigender: sobald man sich ihm nähert, atmet man auf. Darüber zu meditieren, macht beinahe so frei wie die Tat selbst.«, »Es lohnt nicht der Mühe, sich zu töten, denn man tötet sich immer zu spät.«

goethe urteilte: »Es ist nichts schrecklicher als eine tätige Unwissenheit.«, heinrich heine: »Nichts ist lächerlicher als reklamiertes Eigentumsrecht an Ideen.«, »Die Dummheit geht oft Hand in Hand mit der Bosheit.« und »Der Menschen Meinungen sind Kinderspielzeug.«, friedrich schlegel, »Der platte Mensch beurteilt alle andre Menschen wie Menschen, behandelt sie aber wie Sachen und begreift es durchaus nicht, daß es andre Menschen sind als er.«, schopenhauer, »Viele verlieren den Verstand nur deshalb nicht, weil sie keinen haben.« und börne, »Klugheit wird oft als lästig empfunden, wie ein Nachtlicht im Schlafzimmer.« die erfahrungen originärer denken gleichen sich hier.

keine zeit hat einen realistischen blick auf sich selbst. wer die menschen objektiv zu betrachten versucht, sieht zunächst vor allem ameisenhaufen, während die zeitgeistkonfonformen ich-marionetten nicht einmal ahnen, daß sie zu einem haufen gehören. skeptiker wie lichtenberg, nietzsche oder kraus sahen, wie die wirklichkeit tatsächlich aussieht. kraus bemerkte: »Die Welt ist häßlicher geworden, seit sie sich täglich in einem Spiegel sieht.«, jean paul, »Nicht die Freuden, sondern die Leiden verbergen die Leere des Lebens.« und »Je mehr Menschen man kennt, desto weniger schildert man Individuen.«, hebbel: »Wer damit anfängt, dass er allen traut, wird damit enden, dass er jeden für einen Schurken hält.«, »Unsere Tugenden sind die Bastarde unserer Sünden.« und »Wenn man etwas recht gründlich haßt, ohne zu wissen, warum, so kann man überzeugt sein, daß man davon einen Zug in seiner eigenen Natur hat.«, montaigne »Es ist, wie wenn alles, was Menschen berühren, infiziert würde.« und »Ein Gourmet sagte mir, was die Crême der Gesellschaft anlange, so sei ihm der Abschaum der Menschheit lieber.«, friedrich schlegel, »Was gute Gesellschaft genannt wird, ist meist nur ein Mosaik von geschliffenen Karikaturen.«

canetti läßt uns wissen: »Karl Kraus war ein Meister des Entsetzens seit Swift, der unbeirrbarste Verächter der Weltliteratur, eine Art Gottesgeißel der schuldigen Menschheit.« wenige zeilen genügen, um den wert von swift zu erkennen: »Kein Weiser hat sich je gewünscht, jünger zu sein.«, »Die meistes Menschen sind wie Stecknadeln. Der Kopf ist nicht das wichtigste an ihnen.«, »Wie kann man erwarten, daß die Menschheit auf guten Rat hört, wenn sie sich nicht einmal warnen läßt.«, »Niemand, der sein inneres Bewusstsein aufrichtig fragt, wird seine Rolle auf der Welt wiederholen wollen.«, »Was nützt die Freiheit des Denkens, wenn sie nicht zur Freiheit des Handelns führt?«, »Gesegnet sei, wer nichts erwartet, denn er soll nicht enttäuscht werden.«

kraus, der mißtrauen, durchschauen, entlarven, spotten und richten wollte, sowie andere österreichische schriftsteller, und kabarettisten, haben die, zumal morbide, also dekadente, bosheit sowie zynismus und sarkasmus zur kulturform gemacht, so wenn er dachte: »Gewiß, ich wills nicht verhehlen, ich erwarte mir einige Anregungen vom Weltuntergang.« hebbel meinte: »Es gibt Leute, die den Weltuntergang herbeiführen möchten, um sich den Selbstmord zu ersparen.« zynismus ist oft enttäuschter idealismus. friedrich schlegel notierte: »Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben, denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder.« die aphorismen von kraus wirken stärker über seine lebenszeit hinaus als seine tagesaktuellen satiren.

der liedtitel »Wie schön wäre Wien ohne Wiener!« von georg kreisler bedeutet im grunde, weitergedacht, wie schön wär die welt ohne menschen. andré breton, der ursprünge des schwarzen humors bei swift sah, gab eine »Anthologie des schwarzen Humors« heraus. darin sind grabbe, edgar allan poe, baudelaire, arthur rimbaud, andré gide, alfred jarry, guillaume apollinaire und kafka vertreten. heute könnte man eugène ionesco, vladimir nabokov, dürrenmatt und thomas bernhard hinzunehmen.

UNGLAUBE

viel komik verdanken wir monotheistischen religionen mit ihrem je einzigen gott. kraus durchschaute, glaube und witz wurzeln beide im größten kontrast. denn einen größeren als den zwischen gott und gottes ebenbild gebe es nicht. wenn jemand sich zu etwas bekehre, beneide man ihn zunächst, dann bedauere man ihn und verachte ihn schließlich. lichtenberg faßte zusammen, nur im schatten verbrauchter gottheiten könne man atmen. jean paul sah voraus, wenn der mensch keinen rat mehr wisse, fingen die wege der vorsehung an. ernst jünger indes erklärte, ein gott brauche keine ironie, cioran, gott sei eine niederlage der ironie.

egon friedell stellte fest, gott nehme die welt nicht ernst, sonst hätte er sie nicht schaffen können, montaigne, »Wenn die Gans sich einen Gott erdichtet, dann muß er schnattern.«, woody allen, wenn gott existiere, dann hoffe er auf eine gute entschuldigung, lichtenberg, »Erst müssen wir glauben, und dann glauben wir.«, und lec, den ich hier stellvertretend für die vielen guten polnischen aphoristiker, so kazimierz bartoszewicz, karol irzykowski, adolf nowaczyński, julian tuwin, wiesław brudziński oder andrzej majewski, zitiere: »Wer nur gesunden Menschenverstand hat, wird verrückt.«, »Blinder Glaube hat einen bösen Blick.«, »Gedankenlosigkeit tötet. Andere.«, »Aus einer Reihe von Nullen macht man leicht eine Kette.«, »Am Anfang war das Wort ‒ am Ende die Phrase.« und »Von den meisten Büchern bleiben nur Zitate übrig. Warum nicht gleich Zitate schreiben?«

HUMOR UND IRONIE

wenn man über etwas intensiv nachdenkt, entdeckt man auch das komische daran. komik verlangt distanz zum gegenstand und zugleich betroffenheit. hippokrates erkannte: »Das Leben ist eine Komödie für den Denkenden und die Tragödie, für die, welche fühlen.«, heine, »Der Ernst tritt umso gewaltiger hervor, wenn ihn der Spaß ankündigt.« zur befreienden komik gehört list. im komischen siegt leichter der geist über das profane, der galgenhumor über den schrecken.

von otto julius bierbaum, schriftsteller und kabarettist, stammt der satz: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht.« jean paul, facettenreicher humorist und idealist, durch den das wort humor ins deutsche kam, sah darin das umgekehrte erhabene und schrieb: »Humor ist überwundenes Leiden an der Welt.«, hebbel, »Der Genuss des Humors setzt die größte geistige Freiheit voraus.«, novalis: »Wo Phantasie und Urteilskraft sich berühren entsteht Witz; wo sich Vernunft und Willkür paaren; Humor.« und »Die Menschheit ist eine humoristische Rolle.«, heine, »Bis auf den letzten Augenblick spielen wir Komodie mit uns selbst.« und die götter sitzen auf der galerie, oder tribüne, des himmels und lachen.

ironie findet man schon in der antike, etwa bei cicero, »Willst du Dankbarkeit, dann kauf dir einen Hund.«, »Ein Brief errötet nicht.«, »Der Tod ist ein Ausruhen von Mühe und Elend.« ironie, die reflektiert, auch selbstironie, macht etwas fragwürdig, des fragens würdig, und hilft gegen zumutungen des lebens. friedrich schlegel unterstrich, ironie sei kein poetisches, sondern philosophisches verfahren. vollendete ironie werde ernsthaft. e.t.a. hoffmann, der in seiner karnevalistischen literarischen welt viel humor und ironie veranstaltete, sah in der selbstironie »seinen eigenen ironischen Doppelgänger«.

die ironie ist eine seitenlinie des reflektierenden, und damit humanen, denkens. friedrich schlegel nannte die satiren des horaz »die ewigen Urquellen der Urbanität.« benjamin betrachtete den lakonismus bei siegfried kracauer als »Geburt der Humanität aus dem Geist der Ironie«. freud definierte ironie methodisch so: »Ihr Wesen besteht darin, das Gegenteil von dem, was man dem andern mitzuteilen beabsichtigt, auszusagen, diesem aber den Widerspruch dadurch zu ersparen, daß man im Tonfall, in den begleitenden Gesten, in kleinen stilistischen Anzeichen – wenn es sich um schriftliche Darstellung handelt – zu verstehen gibt, man meine selbst das Gegenteil seiner Aussage.«

WITZ UND WITZE

man hat den jüdischen witz eine vorform der psychoanalyse genannt. freud erläuterte, der witz sei der beitrag zur komik aus dem bereich des unbewußten, worin er seinen ursprung habe. mit witzen und witzigen bemerkungen erwähnte freud unter anderem lichtenberg, jean paul, friedrich schleiermacher und heine, lichtenberg mit: »Ein großes Licht war der Mann eben nicht, aber ein großer Leuchter … Er war Professor der Philosophie.« und »Wenn er philosophiert, so wirft er gewöhnlich ein angenehmes Mondlicht über die Gegenstände, das im ganzen gefällt, aber nicht einen einzigen Gegenstand deutlich zeigt.«

erasmus von rotterdam zählte den witz zu den aphorismen. techniken des witzes, wörtlich nehmen, wortspiel, parallelismus, doppelsinn und pointe, gleichen oder ähneln aphoristischen. außerdem enthält auch der witz paradoxien und widerspricht geläufigem, so durch parodie und persiflage. aphorismen wiederum haben teils etwas zugleich vertiefendes und entspannendes. lachen kompensiert. wird der aphorismus witzig, nähert er sich humor und ironie.

jean paul bemerkte, kürze sei der körper und die seele des witzes, börne, tadel ohne witz wär glut ohne licht, heine, witz ohne ernst nur nur ein niesen des verstandes. das wort witz gehört zur gleichen wortwurzel wie deutsch wissen, althochdeutsch wizzi = wissen, vernunft, verstand, einsicht, sinn, weisheit, bewußtsein und englisch wit = geist, intelligenz, witz, klugheit, verstand, esprit, cleverness. lichtenberg erklärte: »Wenn Scharfsinn ein Vergrößerungsglas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungsglas.« und »Es ist mit dem Witz wie mit der Musik, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man.«

lichtenbergs eintrag »Wie geht es, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, war die Antwort.«, wird noch heute erzählt. ich hörte ihn zunächst als witz und las ihn erst dann bei lichtenberg, der fragte: »Warum gefällt eigentlich der Witz so sehr?«, und selbst eine antwort gab: »Was ernsthaft seicht ist, kann witzig tief sein.« kraus analysierte: »Beim Witz ist die sprachliche Trivialität oft der Inhalt des künstlerischen Ausdrucks.« und »Der Wortwitz, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, indem er der Abbreviatur einer witzigen Anschauung dient. Er kann ein sozialkritisches Epigramm sein.«

etliche aphorismen lichtenbergs enthalten sexuelle anspielungen, vor allem gegen religiös und moralisch begründete prüderie: »Einer unsrer Voreltern muß in einem verbotenen Buch gelesen haben.«, »Die Einwohner von Uliettea sandten dem Herrn Cook ein Mädchen und ein Schwein zum Zeichen der Freundschaft. Mittel gegen beide Arten von Hunger.«, »Manches an unserem Körper würde uns nicht so säuisch vorkommen, wenn uns nicht der Adel im Kopf steckte.«, »Ja, die Nonnen haben nicht allein ein strenges Gelübde der Keuschheit getan, sondern haben auch noch starke Gitter vor ihrem Fenster.«, »Die eine Schwester griff den Schleier und die andere den Hosen-Schlitz.« und, »Er mußte etwas zu spielen haben, hätte ich ihn keine Vögel halten lassen, so hätte er Maitressen gehalten.«

bei kraus finden sich ähnlich sarkastische gedanken, aber mehr auf die familie bezogen: »Das Familienleben ist ein Eingriff in die Privatsphäre.«, »Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen, so bleibe ich lieber unverheiratet.« und »Den Mangel, daß das Genie einer Familie entstammt, kann man nur dadurch wettmachen, daß man keine hinterläßt.« jünger meinte: »Der Intellektuelle ist ein Mann, den eine Idee mehr fasziniert als eine Frau.«, friedell: »Eine Geliebte ist Milch, eine Braut Butter, eine Frau Käse.« heute bekämen sie dafür den vorwurf der frauenfeindlichkeit und frauenverachtung. bis ins 20. jahrhundert hinein gab es zahllose solcher gedanken von männern, selbst bei den klügsten, was zeigt, wie sehr frauen feindbild und sündenbock, oder sündenschaf, der männer waren. und frauenfeindliche tendenzen sind, wie ihre ursachen, noch längst nicht überwunden.

was sagte ebner-eschenbach dazu? »Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.«, »Liebe ist Qual, Lieblosigkeit ist Tod.«, »Hoffnungslose Liebe macht den Mann kläglich und die Frau beklagenswert.«, »Die Frau, die ihren Mann nicht beeinflussen kann, ist ein Gänschen. Die Frau, die ihn nicht beeinflussen will ‒ eine Heilige.«, »Überlege wohl, bevor du dich der Einsamkeit ergibst, ob du auch für dich selbst ein heilsamer Umgang bist.« und »Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.«

doch kraus hatte auch reformerische ideen: »Es ist höchste Zeit, daß die Kinder die Eltern über die Geheimnisse des Geschlechtslebens aufklären.« bei jean paul findet man viele einfühlende gedanken zu kindern: »Die Kinder erraten die Eltern besser als diese jene.«, »Schulet Kinder durch Kinder.«, »Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher.«, »Was für die Zeit erzogen wird, das wird schlechter als die Zeit.« oder »Freude am Strafen hat nur der Teufel.«

freud nannte zudem folgende witze: »Das Ehepaar X. lebt auf ziemlich großem Fuße. Nach Ansicht der einen soll der Mann viel verdient und dabei etwas zurückgelegt haben, nach anderer soll sich die Frau etwas zurückgelegt und dabei viel verdient haben.«, »Friedrich der Große hört von einem Prediger in Schlesien, der im Rufe steht, mit Geistern zu verkehren; er läßt den Mann kommen und empfängt ihn mit der Frage: „Er kann Geister beschwören?“ Die Antwort war: „Zu Befehl, Majestät, aber sie kommen nicht.„« geister sind sehr scheu.

unter freuds witzen finden sich etliche jüdische, so: »Ein galizischer Jude fährt in der Eisenbahn und hat es sich recht bequem gemacht, den Rock aufgeknöpft, die Füße auf die Bank gelegt. Da steigt ein modern gekleideter Mann ein. Sofort nimmt sich der Jude zusammen, setzt sich in bescheidene Positur. Der Fremde blättert in einem Buch, rechnet, besinnt sich und richtet plötzlich an den Juden die Frage: „Ich bitte Sie, wann haben wir Jomkipur?“ (Versöhnungstag.) „Aesoi„, sagt der Jude und legt die Füße wieder auf die Bank, ehe er die Antwort gibt.«

salcia landmann zitierte in ihrem buch »Jüdische Witze« noch zahlreiche andere. der jüdische witz ist schärfer, tiefer und noch paradoxer als der anderer völker, weil er nicht nur verhaltensweisen einzelner menschen, sondern die verhältnisse insgesamt im blick hat, auch in form des gebildeten jüdischen volkswitzes. witze sind waffen der benachteiligten und verlierer, die sich sonst kaum wehren können. wir finden im jüdischen witz originelle projektionen, unerwartete zusammenhänge, die wesentliches sichtbar machen, das aussetzen konventioneller logik, viel geistesgegenwart und list, die der von tricksterfiguren ähnelt.

in der bibel gibt es noch kaum witze, aber bereits jüdische selbstkritik. bemerkenswert ist die spätere jüdische selbstironie, die schon freud registrierte. »Der Kantor der Gemeinde will für die Mitgift seiner Tochter drei Jahresgehälter Vorschuß haben. Die Gemeinde findet das Geschäft riskant. Vielleicht stirbt der Kantor vorher. „Laßt es uns drauf ankommen.“, bittet der Kantor. „Vielleicht habt ihr Glück und ich lebe dann noch, und sollte ich vorher sterben ‒ nun, dann hab eben ich Glück gehabt.“«

ein jüdischer witz aus dem einstigen russisch polen geht so: »Ein Mann aus Chełm ging suchend um eine Laterne herum. Er suchte und suchte. Fragt ihn ein Passant: Habt Ihr was verloren? − Ja, einen Rubel. − Hier, bei der Laterne? − Nein, etwas weiter weg. − Warum sucht Ihr dann hier? − Weil es hier hell genug ist.« chełm, die polnische schildbürgerstadt, kann überall sein, aber auch weisheit: »“Chaim, was bist du heute zum Gottesdienst gekommen? Du hast doch gesagt, Du glaubst nicht an Gott!“ „Das ist wahr, ich glaube nicht an ihn. Aber weiß ich denn, ob ich recht habe?“« der wirklich ungläubige glaubt auch an seinen unglauben nicht. am jüdischen denken können wir sehen, auf welche weise bildung, mit und neben der religion, eine bedrängte und verfolgte kultur über zwei jahrtausende hinweg überleben läßt. das tiefere und zumal paradoxe moderne denken wurde erheblich jüdisch geprägt.

jüdische witze klingen teilweise, wie wenn sie anekdoten wären, die wirklich geschehen sind. »Rothschild ist sehr beschäftigt. Ein Besucher kommt. Rothschild, ohne aufzublicken: „Nehmen Sie einen Stuhl!“ Nach einigen Minuten sagt der ungeduldige Besucher: „Ich bin der Herr von Thurn und Taxis.“ Rothschild: »Nehmen Sie zwei Stühle.“« »Der Philosoph Geiger aß mit einem katholischen Priester. „Wann werden Sie endlich das alte Vorurteil aufgeben und anfangen, nichtrituell zu essen?“ „Auf Ihrer Hochzeit, Hochwürden“, entgegnete Geiger.«, »“Reb Koppel ist gestorben. Gehst Du zu seinem Begräbnis?“ „Warum sollte ich? Wird er zu meinem kommen?“« bei heine und kafka findet man einflüsse des jüdischen witzes. allen, geborener konigsberg, verbindet aufklärung und witz.

NARR UND TRICKSTER

weisheit lebt auch von intensitäten und umkehrungen. kafka berichtete in einem brief: »Ein Weiser, dessen Weisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchen mit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nach Hause gehen wollte − er wohnte in einem Taubenschlag −, fällt ihm da der andere um den Hals, küßt ihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daß sich dem Weisen seine Weisheit zeigte.« ich denke hier an den »Gottesnarr« oder »Narr Gottes« genannten asketischen wanderprediger rabbi muschallam sussja aus den »Erzählungen der Chassidim« von martin buber. jean paul wies darauf hin, wer nicht den mut habe, auf seine eigne art närrisch zu sein, sei schwerlich auf seine art klug.

»Das bucklige Männlein« aus dem gleichnamigen lied der volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« von achim von arnim und clemens brentano, das benjamin in seiner »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« aufrief, ähnelt in seinem ambivalenten verhalten einem gnom, also bergunderdgeist, oder kobold, naturundhausgeist. das bucklichte männlein ist ein unruhestifter, zugleich aber offenbar selbst seelisch verwundet, wodurch das eine das andere bedingt. das lied endet mit: »Liebes Kindlein, ach ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit!«

benjamin schrieb: »Ich denke mir, das jenes „ganze Leben „, von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick eines Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei, wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unsrer Kinemathographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang, dann werden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden.« auch das bucklige männlein kommt aus dem unbewußten.

kracauer bemerkte: »Es gibt keine echte Clownerie, die nicht die Bestimmung hätte, die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren.« weitere komisch und rebellisch kluge wesen sind clown, possenreißer, harlekin, schalk. allen ist in vielen seiner rollen schelmisch. es wurde immer mal wieder vermutet, daß auch don qijote ein listiger schelm sein könne, der seinen traum, der ihn lächerlich macht, bewahrt, indem er eine abgelebte zeit zurück ins leben ruft, um weiter träumen zu können. heine erklärte, miguel de cervantes habe die größte satire gegen die begeisterung geschrieben.

kinder und narren sagen die wahrheit, heißt es. till eulenspiegel, umherstreifender narr und spötter aus dem 14. jahrhundert, der die menschen beim worte nahm, was auch aphoristiker tun, und dessen streiche sein werk waren, werden in christa und gerhard wolfs »Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film« folgende sprüche zugeschrieben: »Ein armer Mann hat den Wind alleweil von vorn.«, »Fraß bringt mehr um als das Schwert.«, »Auch des Kaisers Speisen werden zu Kot!«, »Wer sich zum Lamm macht, den jagen die Wölfe.«, »Mönche, Mäuse, Motten, Maden scheiden selten ohne Schaden.«, »Bezahlte Tollheit heißt die Welt Vernunft.«, »Ein Schelm gibt mehr als er hat!«, »Was zwei wissen, das erfahren hundert!«, »Ein junger Engel wird oft ein alter Teufel.« und »Erzwungene Liebe und gemalte Wangen dauern nicht.« literarisch findet man eulenspiegel früh als figur eines mittelniederdeutschen volksbuchs sowie von hans sachs, später bei gerhart hauptmann, erich kästner und daniel kehlmann.

es könnte bei till eulenspiegel so sein wie bei salomo und jesus. er hat sprichworte aufgegriffen und verwendet und manche seiner eigenen sprüche wurden als sprichworte überliefert. auch bei eulenspiegel gibts berichte, die eine reale figur vermuten lassen, die sich dann mit erfundenem, sagenhaftem, literarischem vermischte. solche anarchisch provokanten personen, die öffentlich aussprechen, was viele insgeheim ahnen, waren und sind oft wunschfiguren des volkes.

ebenso vereinen trickster, schicksalskräfte außerhalb der göttlichen ordnung, die weltenschöpfer, kulturbringer, seltsames wort, weiße und schwarze magier, narren, betrüger, täuscher und teufel in einer person sind, wie der griechische prometheus, nordische loki oder nordamerikanisch indianische coyote, schöpferische, narrenhafte und teuflische eigenschaften, eine höchst moderne mischung. geschöpft wird aus dem vulkanischen inneren. und indem sich die urkräfte des chaos und der tiefe nie völlig beherrschen lassen, zerstören schöpfer auch. folgerichtig waren viele schöpfergötter, der ambivalenz der menschlichen seele folgend, zugleich zerstörungsgötter oder selber der zerstörung ausgesetzt. prometheus und loki stehen einander näher als man gemeinhin glaubt. die unbewußten kräfte im menschen sind die trickster der seele.

 

 

 

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Markenzeichen von Twitter: der blaue Vogel „Larry“

Weiterführend  Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.