Vielleicht eine Fabel

 

„Im Zeughaus in Berlin wird seit dem Fall der Mauer eine über drei Meter hohe Lenin-Statue gezeigt, die stand zuletzt in Eisleben. Die Geschichte dieser Statue ist so denkwürdig wie skurril.“

Rudnikow dachte, wahrscheinlich müssen alle denkwürdigen Geschichten skurril sein. Dann las er weiter:

„Es ist der allererste Denkmal-Lenin, und er wird zur Ikone der roten Welt. Er stand in der russischen Stadt Puschkin, bis die deutsche Wehrmacht die Stadt einnahm und verlangte: Entweder die Kirchenglocken oder Lenins Metall. Lenin wurde zu einem Stahlofen in der Lutherstadt Eisleben gebracht. Aber als die amerikanischen Truppen am Ende des Krieges die Stadt übernahmen, war Lenin immer noch auf dem Schrottplatz. Wahrscheinlich, so vermuten die meisten, war für Lenins Standbild der Stahlofen zu klein gewesen.

Als die Amerikaner abgezogen waren, damit die Rote Armee die Stadt besetzen konnte, stellten schlaue Bürger Eislebens Lenin aufrecht hin und machten den Russen weis, dass sie ihn nicht nur vor den Faschisten, sondern auch vor den Amerikanern gerettet hätten. Da soll einer der sowjetischen Soldaten ausgerufen haben: Lenin ist uns vorausgeeilt!

Die Rechnung der Eislebener ging auf, die Stadt wurde von Gewalt und Plünderung verschont. Aber es sollte noch besser kommen: Zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik machte die Stadt Puschkin der Stadt Eisleben ihren Lenin zum Geschenk. Puschkin bekam dafür ein Thälmann-Denkmal, und so entstand die Legende einer Freundschaft, bis der Eiserne Vorhang fiel.“

Was tun?, dachte Rudnikow. Wohin mit Lenin?, fragt das Zeughaus in Berlin, und wo ist Puschkins Thälmann?, fragen sich andere vielleicht auch, dachte er. Aber die Geschichte ist vom Umtausch ausgeschlossen. Alle Dialektik ist hin.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.