Massendiskurs

 

Es ist nicht jedem gegeben, sein Innerstes an die Oberfläche aufsteigen zu lassen, ohne Scheu und ohne Furcht vor dem Zerrissenwerden oder der Antwort: Was für ein schwacher Text! Aber es geht gar nicht anders. Ich glaube, es ist möglich, sich eine dickere Haut wachsen zu lassen und zugleich die Kanäle zu weiten für das Aufsteigen der inneren Ideen und (in Worte gefassten) Gefühle, Sehnsüchte, Ängste.

Wir alle sind Konglomerate der unterschiedlichsten Gefühle: Verletzungen, Wunden, Niederlagen, narzisstische Kränkungen, Mühen, Sorgen, Ängste, Schrecken, Leere, Druck und Furcht vor Versagen, Schuldgefühle, die Stimme des Gewissens, traumatische Erlebnisse… und Freuden, Eigenliebe, narzisstische Regungen, Begierden, Suchtgefühle… Gedanken, Erlebnisse, Lehren und Erkenntnisse, die eigene Geschichte, die curriculare Last, Pflichten, Rollenkonflikte – und noch einiges mehr: Das alles ist in uns und verrät sich im Schreiben, auch wenn es sich im Lyrischen oder Epischen oder Dramatischen Ich verbirgt.

Die formale Bewältigung aller dieser Elemente unseres Lebens im Schreiben ist ein höchst komplexer Akt der permanenten Selbst- und Fremdüberwindung. Es ist klar, dass das anstrengt und Schamängste hervorruft. Selbst ein extrovertierter Künstler wird konfrontiert mit dem Urteil, das ihn abweist oder einsam werden lässt. Anerkennung ist brüchig, temporär und treibt in neue Zweifel: Gefalle ich, weil ich gefällig bin, weil ich in der Belanglosigkeit des Geschriebenen nicht mehr anstoße?

„Der Intellektuelle“ – unter diesem Titel schrieb Jürgen Habermas in der Zeitschrift „Cicero“ (Nr. 4/2006) einen Essay über die Problematik des Intellektuellen. Darin geht es um die Tatsache, dass intellektuelles Wirken heute, provoziert durch die Massenmedien Internet und Fernsehen, im Spannungsfeld zwischen Egalitarismus und elitärem Anspruch steht. Der Intellektuelle oder Künstler steht zwischen Selbstdarstellung und Diskurs, und zwar in einer immer mehr entformalisierten Öffentlichkeit.

Auch der Künstler ist in dieses Spanungsfeld gestellt – er setzt sich und sein Werk der Massenreaktion aus. Anders als früher reagieren heute nicht nur einzelne, sondern viele. Der Intellektuelle und der Künstler haben es schwerer als früher mit ihrer Autorität – ihr Urteil ist schon relativiert, ehe es ausgesprochen wird (früher war es oft genau umgekehrt, was auch nicht gut war).

Was aber unverändert bleibt, so Habermas, ist der Mut des Intellektuellen zur Polarisierung, unbequeme und wehtuende Dinge zu sagen, Werke zu erschaffen, die zunächst entfremden, um dann zu neuen Erkenntnissen zu treiben. Der Künstler ist in dieser Position immer einsam, es geht nicht anders, er muss vermessen sein, wenn er das Sein, partiell, vermisst, er kann nicht anders, er muss. Er muss die gegen ihn gerichteten Vorwürfe aushalten, den Hass der Masse, er ist zur sterilen Aufgeregtheit, die sein Werk begründet und wirken lässt, verpflichtet – ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten der Rezipienten. Das Werk des Künstlers, wenn es wirklich in die Gesellschaft hinein lebt, entwirft mit avantgardistischem Spürsinn Alternativen zum bisher gelebten Sein – es ist fremd und utopisch, weil es Heimat sucht.

Das Wesen des Kunstwerks ist nicht primär der Genuss, die Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse, sondern es provoziert den Prozess schmerzlicher Arbeit, der im besten Fall in ein schmerzlich-orgasmisches Erkenntnisglück mündet, das selbst wieder ein Werk darstellt und damit die Voraussetzung für eine neue Kunst.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.