Die verlorenen Fragen

 

Am Rand meiner Hingabe an die Welt und selbst dann, wenn ich mich liebe, vergesse ich mich, antwortete Rudnikow einer unersättlichen Hetäre in Baku, als er sie bezahlte. Weil es mich nur gibt, wenn ich mich denke, ist meine Existenz eine Fiktion, wie ein Schnappschuss vom ganzen Leben. Ich bin Eis vom Eis der großen Bewegung. Absurd, ich muss mich erfinden. Aber jedesmal wenn ich glaube, ich habe mich gefunden, bin ich schon wieder verloren. Und wenn ich außer mir bin, wenn ich aufgehe in meiner Arbeit, aus der ich ja entstehe, muss ich in dem Moment, wo ich mich am weitesten von mir entferne, mir selbst am nächsten sein, doch ich bin, wie gesagt, nur eine Erfindung, ein Bild, wie die Nacht, durch die ich fahre, die Wunde, die mich erhellt, und nur so, betäubt, kann ich mein Leben ertragen, sagte Rudnikow.

Den Tod!, sagte sie und steckte das Geld zwischen die Beine.

Ja, sagte Rudnikow. Die verführerischsten Todesgestalten sind das Weib und der Kapitalismus, die uns in der Gefangenschaft des Körpers in die Unfreiheit des Geistes führen, und diese babylonischen Huren sind so schön, dass wir uns, völlig vergebens, nach ihrer Verzauberung sehnen und ihr zugleich zu entkommen trachten. Wir überwinden den Tod zu Lebzeiten, wenn wir das Glück haben, unsere Liebe gesellschaftlich zu gestalten, im Rausch von Politik und Kunst, damit wir am Ende gar nichts vom Abschied der Welt merken. Rudnikow sah an der Freundin vorbei, durchs Fenster dröhnte die Schwarze Stadt.

Das ist das größte Unglück, sagte sie, aber es klingt beruhigend.

Ich weiß nicht, sagte Rudnikow, ich habe gar keine Ahnung, wovon ich rede, aber es beruhigt mich auch.

 

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Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.