Höchste Lust

 

Rudnikow, der Seelenwanderer, nahm den weiten Weg nach Moskau auf sich, um endlich die Oper zu hören, die den Westen als Abendland definiert: Tristan. Auf einer Bühne unaufführbar, dachte Rudnikow, als der Zug Moskau erreichte und im Kasaner Bahnhof einlief. Warum höre ich mir diese Oper ausgerechnet in Moskau an, dachte er, aber da saß er schon im Dunkel der Oper, der Vorhang war noch zu, das Vorspiel tönte herauf zu ihm aus dem orphischen Hades, und er träumte sich weit weg.

Rudnikow war, wo er von je gewesen, im weiten Reich der Weltennacht. Er fand sich auf den Stufen des römischen Theaters von Orange wieder und sah in der schönsten Mauer Frankreichs die Kulisse des Abendlands, das Orchester tönte herauf zu ihm, und es war die Welt, die da tönte, Tristan und Isolde und die Nacht der Liebe. Rudnikow schloss die Augen, er war nun Tristan, war Ton unter Tönen, und seine russische Seele, die so weit und tief war wie das Land, aus dem er kam, wurde aufgenommen in den Schoß westlicher Liebeliebe. Löse von der Welt mich los!, sang Rudnikow. Gib Vergessen, dass ich lebe! Und seine Seele, die jahrhundertelang geknechtete Seele des russischen Volkes, die in ihm fortlebte, atmete tief, warf die Ketten der inneren Gefangenschaft ab und fühlte sich eins mit allen Menschen, die um ihn herum saßen in dieser wunderbaren Nacht, alle die russischen Seelen, die sich nun befreiten.

Sie sahen nicht die blauschwarzen schweren Wolken am Himmel, die das letzte Abendrot verdunkelten. Als ob die Musik Schatten würfe, dachte Rudnikow, als er das sanfte Rollen des Donners hörte, das Orchester spielt von allen Seiten! Weh, nun wächst, bleich und bang, mir des Tages wilder Drang, Rudnikow schlug die Augen auf, weckt zu Trug und Wahn mir das Hirn! Lange Blitze erhellten das ganze Theater. Verfluchter Tag mit deinem Schein! Rudnikow meinte schon, als die Donnerschläge wuchsen, die Signale der Revolution zu hören, am falschen Ort, zur falschen Zeit, aber je lauter und heller das himmlische Gewitter wurde, umso stärker fühlte er sich in dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehenden All ertrinken, versinken, unbewusst -, er war vollkommen eins mit allem, mit dem Himmel des Abendlands, der Nacht der Liebe, dem Tag der Revolution und mit sich selbst. Die letzten Klänge starben, und ein krachender Donnerschlag beendete die Aufführung endgültig.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.

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