Rudnikow, Wanderer zwischen Tod und Tod, liebte Deutschland, wo die russischen Krähen überwintern, aber er war nie dort, er liebte die Tiefe, er liebte alles Rätselhafte, das ihm vertraut wurde und das er begriff ohne zu verstehen.
Als der Winter zu Ende ging, kamen die Krähen wieder. Rudnikow, selbst auf dem Heimweg, von Smolensk über Moskau nach Semipalatinsk, beobachtete einen Schwarm, der den Vorplatz des Smolensker Bahnhofs anflog. Sie sind viel schöner als die Raben in den deutschen Märchen, dachte Rudnikow, als er das schwarzglänzende Gefieder der russischen Krähen, die Krümel vom Boden pickten, betrachtete, sie sind schwärzer als alle anderen Krähen und schwärzer noch als Odins Vogel, aber sie sind keine Sündenteufelsgalgentodesvögel. Rudnikow, mit freudig erhobenen Armen, rief ihnen zu: Dobro poschalowath, dorogije drusja – herzlich willkommen, liebe Freunde!
Aber sie flogen erschrocken davon. Rudnikow schaute den Krähen nach. Lauter schwarze Kreuze standen am Himmel, als sie wegflogen. Wie Abendsterne, dachte er, sie sind weiser geworden, ihre Sprache wird immer deutlicher.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.