Grandios – im Großen wie im Detail, brachialer Existenzialismus im Gewand einer hochästhetischen Sprache. Wie immer man es nennt, es ist Gefühl, pur, Macht, vollkommene Hingabe, Gewalt eher nicht. Ich mag die Freiheit zu sehr, um ihr Schranken zu setzen und sei es nur in der Sprache… Die Sprache ist bisweilen extrem dicht, der unterschwellige Handlungsrhythmus mitreißend. Nichts, was nach leichter gefälliger Kost klingt. Der Terres wird Dir noch an den Füßen kleben wie Pech…
Prof. Dr. Eberhard Loosch
der buchtitel ist mehrdeutig. manche der beschriebenen körper befinden sich in einem kritischen zustand. aber auch das verhältnis der figuren, oder des modernen menschen insgesamt, zur körperlichen und damit natürlichen natur wird kritisch hinterfragt. kritisch bedeutete ursprünglich entscheidend und erst später bedrohlich, gefährlich. diēs criticī hießen spätlateinisch medizinisch die entscheidenden tage im ablauf einer krankheit. fast das gleiche meint crisis=entscheidende wendung (von krankheiten).
ulrich bergmann, ein eigentlich zur lebenskunst begabter mensch, konfrontiert seine leser in >Kritische Körper< mit gewalt und zerstörung, tragik und tod. der ton ist dabei härter als in den spielerisch leichten >Arthurgeschichten<, die einige jahre zuvor entstanden waren und das sublimierungspotential moderner kultur betont hatten, während die 50 neuen prosaminiaturen deren mögliches auseinanderbrechen und destruktivwerden beschreiben und reflektieren. der autor verweist auf die »gefährliche Austauschbarkeit von Wirklichkeit und Vorstellung«, spricht von einer »selbstzerstörerischen Tendenz beim Suchen nach sich selbst« und fragt: »Warum müssen meine Figuren durch innere Strafkolonien gehen und im Traum sich zu retten versuchen?«. manche dieser texte, die geradlinig und nüchtern, ja fast protokollarisch erzählt sind, könnte man eine ins phantastische und absurde gesteigerte medizin nennen, die auch lebensreale konfrontationen mit sterben, tod und todesangst verarbeiten läßt, ja die phantastik, die mit der todessymbolik spielt, ist vielfach derart über den realen tod hinausgetrieben, daß dieser bloß noch fiktiv erscheint. der tod wird phantasiert, damit er nicht gefürchtet werden muß. beruhigt der fiktive tod im leben?
teilweise erinnern die geschichten an erzählungen von julio cortázar, bei dem man ebenfalls spielerisch fatale übergänge zwischen realität und fiktion findet. auch kafkas verwandlungen klingen an, ebenso die bildwelten eines francis bacon oder rené magritte. einige texte assoziieren ernst jüngers >Violette Endivien< aus >Das abenteuerliche Herz<. in ulrich bergmanns >Menschenmehl<, einem zivilisationskritischen text, wird, ein neuer fall sympathetischer magie, aphrodisiaka aus mehl von frauenkörpern hergestellt. »Der schnellste Tod ist aus pharmazeutischer Sicht der beste. Er garantiert, wenn keine bitteren Hormone in Todesangst ausgeschüttet werden, die aromatische Qualität, die für das Liebespulver erforderlich ist«. indem menschenschlachtung dem lebensgenuß vorausgeht, ist die entmenschlichung durch verwertung die voraussetzung der lebensfreude, wobei die verwerteten und die genießenden freilich nicht die gleichen sind. jede sublimierung läßt etwas überwältigtes zurück. zugleich scheinen die gewalthandlungen der figuren teils resultat eines ins destruktive und makabre umgelenkten und verwandelten liebesverlangens und spieltriebs zu sein.
auch in >Häutung< werden körper für luxusinteressen ausgeschlachtet. ein modezar will »die Kreation eines Couturiers aus der Mandschurei, der aus den Flügeln gezüchteter Riesenschmetterlinge elektrisierende Bikinis und futuristische Ballkleider zauberte.«, übertreffen, indem er, von menschenhäutungen in der malerei angeregt, häute getöteter menschen aufkauft und verarbeitet: »Die frische Beute wird an Ort und Stelle bei lebendigem Leib enthäutet, weil das die beste Qualität ergibt. Die Käufer riechen nämlich den Makel einer humanen Tötung, unter der letztlich die Geschmeidigkeit des Leders leidet, was auch die Kunden sofort fühlen«. hergestellt werden so »die ersten wirklichen Menschenkleider«. doch das ist noch nicht das ende der verwertung. zuletzt schlitzt sich ein mannequin leibhaftig selbst auf und das »kunstsinnige Publikum« tobt. das ästhetische hat eine neigung zum tode hin.
häuten war einst ein religiöses ritual. tierhäute wurden etwa bei jägeroderkriegerkulten oder medizinzauber übergestreift. indem die menschenhäute aus gesellschaften geholt werden, die sehr arm sind und dem individuum einen geringeren wert geben, hat >Häutung< auch eine politische dimension. zugleich zeigt der text das umschlagen von kultiviertheit in barbarei bis hin zur selbstzerstörung. klinisch perfekt ist der mensch erst, wenn er abends seinen alten körper ablegt und sich morgens einen neuen anzieht.
in der natur gibt es wirklich makaber anmutende qualitätsumschwünge wie in >Menschenmehl< oder >Häutung<. meliponen, südamerikanische wildbienen, die sich von aas, kot und urin ernähren, sollen einen besonders betörenden honig liefern. claude lévi-strauss, der diesen honig offenbar gekostet hat, schrieb in >Mythologica<, band 2, >Vom Honig zur Asche<: »Ein Genuss, der lieblicher ist als jeder, den Geruchs- oder Geschmackssinn normalerweise zu bereiten vermag, rüttelt an den Grenzen der Sensibilität und verwirrt ihre Register. Man weiß nicht mehr, ob man schmeckt oder vor Liebe brennt«.
liebe und tod, schönheit und gewalt, einfühlung und exzess, lust und schmerz, genießen und zerstören verschmelzen in >Kritische Körper< häufig miteinander, bis hin zu sexueller und ästhetischer gewalt. wir finden hier einen an existentielle grenzen stoßenden perfektionismus, der am ende zerstörerisch wirkt. manche figuren sind regelrechte mordoderselbstmordfolteroderselbstfolterdesigner. bisweilen hat man den eindruck, die kultivierung, die den modernen menschen auch panzert, sei bloß die andere seite seiner gewalt. indem entfremdung kultiviert wird, erscheint sie täuschend als natur des menschen.
jede intensität und jede tiefe bringt uns dem tod näher. wer >Das Konzert< liest, könnte geradezu glauben, musik sei sublimierte todesenergie. novalis meinte, jede krankheit wäre ein musikalisches problem, jede heilung eine musikalische lösung. bei nietzsche heißts, der schmerz frage immer nach der ursache, während die lust geneigt sei, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen. spätmittelalterlich war der höllenfürst astaroth, der vergangenheit, gegenwart und zukunft durchschaut, zugleich schutzherr der freien künste.
heiner müller zitierte ernst jünger unter anderem mit dem satz »Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer du bist!« paul valéry schrieb in >Monsieur Teste<: »Der Schmerz geht zurück auf den Widerstand des Bewusstseins gegen eine lokale Disposition des Körpers. – Ein Schmerz, den wir klar ins Auge fassen und gewissermaßen umreißen könnten, würde zu einer Empfindung ohne Leid – und vielleicht gelangten wir so dazu, etwas von der Tiefe unseres Körpers unmittelbar zu erkennen – Erkenntnis, wie wir sie in der Musik finden. Der Schmerz ist etwas sehr Musikalisches, fast lässt sich in Musikbegriffen von ihm reden. Es gibt dumpfe und schrille Schmerzen, Andante-Passagen und Furiosi, ausgehaltene Töne, Fermaten, und Arpeggi, Übergänge – plötzliche Stille, usw. … /– gut (sprach Monsieur Teste). Das Wesentliche ist gegen das Leben«. glücklicherweise steht die realität dem wesentlichen meist entgegen. sonst wär die welt noch barbarischer.
»Vielleicht ist Kunst nichts anderes als die in Schönheit verwandelte Wunde« meint ulrich bergmann. jedenfalls greift die verwundete seele oft nach der todesmetaphorik. substanz kommt aus dem verlust. wunden der seele verwurzeln die kunst in der tiefe. häufig kompensiert die kunst das verlorene, verletzte und nicht gelebte leben des künstlers, der sich in seiner kunst vor allem vom eigenen, meist verwundeten, seelenfleisch nährt, das ihm derart verspeist wie in einem magischen kessel immer wieder nachwächst.
was kunst und literatur anregt, kann zugleich sozial verheerend wirken. offenbar gibt es einen untergründigen zusammenhang zwischen gesellschaftlichen katastrophen und künstlerischer innovation. die strömungen der klassischen moderne entstanden praktisch alle unmittelbar vor oder nach dem ersten weltkrieg, der die alte europäische ordnung der kaiserreiche zerbrach. schon die barocklyrik war eng an den erfahrungen des dreißigjährigen krieges gebunden. energien, die traditionen, strukturen, konventionen und normen einer gesellschaft infrage stellen, unterwandern und überwinden lassen, können, den ambivalenzen der menschlichen seele folgend, sowohl künstlerische und andere kreativität anregen und freisetzen als auch gewaltpotentiale hervorrufen und so das soziale leben deformieren und zerstören. menschenmassen sind eben keine künstler und gesellschaftliche gesamtkunstwerke eher bedrohlich.
indem der autor die sphären des lebens und des todes sowie lebende und tote selbst miteinander verbindet, können die toten unversehens ins reale leben treten. er spricht sie an und schon stehen sie lebendig vor ihm wie der golem, der das magische wort empfangen hat. und die phantastik reicht bis ins historische und politische hinein. in einer der >Kautsky<-geschichten, >Kautskys Nachtgesang<, besucht kautsky mitten in der nacht den berliner dorotheenstädtischen friedhof. und sieht dort auf den gräbern von hegel, brecht, heiner müller, helene weigel, hanns eisler, paul dessau, anna seghers, heinrich mann, arnold zweig, wieland herzfelde, john heartfield, jürgen kuczynski, johannes r. becher, bernhard minetti, ruth berghaus und rudolf bahro die zigarrenlichter der rauchenden toten brennen, die ihm wie ein »umgekippter Himmel« vorkommen. in mythen australischer ureinwohner erscheinen die sterne als lagerfeuer der toten, die in der kälte des kosmos ihres todes zumindest etwas wärme brauchen, wie die toten linken intellektuellen die erwärmung durch ihre utopien. tod, auferstehung, imagination und utopie gehen vielfach ineinander über. viele phantasiereiche, das paradies inbegriffen, waren ursprünglich todesreiche. andererseits sind auch manche der leuchtenden sterne schon tot.
im kapitel >Tour de Trance<, zu dem 16 texte gehören, erscheint der sport entweder selbst gewaltsam oder verschmilzt mit gewalt, wie das spiel mit enthemmtem ehrgeiz. sport kann zugleich spiel und kampf sein. vielfach ersetzte sportlicher wettstreit kriegerische kämpfe. und bei solchen transformationen bleibt immer etwas vom ursprung in anderer erscheinungsform erhalten. in der modernen medienundmassenkultur kehrt die römische arena wieder. die sport-miniaturen ulrich bergmanns, die zusammenhänge zwischen sport, körperkult, ritual und gewalt zeigen, weisen auf eine verwandtschaft heutiger sportler mit kriegern und gladiatoren sowie comicundcomputerspielfiguren hin, deren merkmale ineinander übergehn und austauschbar werden. die kalte dynamik der technokraten und der klinische vitalismus der popkultur wirken hier zusammen. einige figuren haben, indem ihr verhalten von kräften angetrieben wird, die sie nicht durchschauen, etwas geradezu automatenhaftes. sportidole und werbefiguren, sportergebnisse und börsenwerte, sportlerverkäufe und firmenfusionen liegen motivisch dicht beieinander.
daß im technokratischen leistungszwang verachtung der menschlichen natur mitklingt, scheint mir unzweifelhaft. firmen, die nach dem ersten weltkrieg beinundarmprothesen produzierten und verkauften, warben für ihre produkte, indem sie behaupteten, die technisch hergestellten gliedmaßen seien perfekter als die natürlichen. in >Runner’s World< heißt es, training sei nichts anderes als die fortsetzung des dopings mit anderen mitteln. heute verursachen nicht zuletzt die mächtigen sportverwertungsapparate, die medien inbegriffen, doping, indem sie einen enormen existenzundleistungsdruck aufbauen. drogen und doping ersetzen die unsterblichkeitstränke. klinisch perfekt ist der mensch erst, wenn er abends seinen körper ablegt und sich morgens einen neuen anzieht. zugleich sind menschen das momentan noch größte hindernis für eine uneingeschränkt funktionierende herrschaft der technokratie.
manche handlungen der bergmannschen texte wirken wie nachfolgeformen von initiationsritualen, die tragisch enden, weil die figuren den kultischen zweck nicht mehr kennen oder bloß profan verstehen und sich daher durch ihre verselbständigte exzessive körperbeherrschung oder reine körperästhetik, die das perfekte und ästhetische ins gewaltsame übergehen lassen, sowie symbiosen aus beidem zerstören. teilweise läuft die kampfundspaßgesellschaft so lange weiter, bis sie, zumindest partiell, harakiri begeht.
die gruppenbildungen, verkleidungen, maskierungen und bemalungen sowie rhythmischen gesänge und tänze von fußball-fans, für die das spiel oft bloß anlaß und kulisse bildet, erinnern an kultische rituale, etwa bei jägerundkriegerkulten. offenbar lebt darin ein frühkultureller untergrund weiter, den der moderne mensch sonst kaum ausleben kann. menschen folgen dem zeitgeist, weil sie ihre zeit sonst nicht ertragen würden. in einem fragment unterm titel >No sports!< schrieb ulrich bergmann: »Sport ist, im besten Fall, die groteske Anstrengung des Körpers Todesangst zu verdrängen«.
eishockeymannschaften tragen die namen einstiger totemtiere, was suggeriert, der verein sei ein stammesverband und die spieler wären angehörige eines löwentigerpantherodereisbärenclans. ähnliche namensgebungen, die sich, wohl nicht zufällig, meist an raubtierarten oder zumindest räuberischen und bewaffneten tieren orientieren, findet man bei anderen mannschaftssportarten. in den usa gibt es sportvereine, die wölfe, bulldogs, adler, falken, kampfbienen, hornissen, skorpione oder moskitos heißen.
die leser dürften verschieden auf >Kritische Körper< reagieren, die einen mehr das kunstvolle, spielerische, fiktive wahrnehmen, oder sogar genießen, die andern stärker, unmittelbarer und realitätsbezogener die gewaltvisionen bemerken. neben individuellen vorlieben oder abneigungen hängt das wohl auch von der jeweiligen lebenssituation ab. nun mag man sagen, das artifizielle spiel in diesen geschichten wirke oft sehr hart, ja wie ein ausdruck einer kalten phantasie. in den medien indes wird fast täglich von brutalen gewaltakten berichtet, wenngleich meist weniger raffinierten. ulrich bergmann denkt auch entwicklungen weiter, die wir in der gegenwart angelegt finden. seine gewaltszenen sind nicht fiktiver voyeurismus, mit dem sich der autor an eigenen visionen berauscht, oder gar gewaltverherrlichungen. sie beschreiben vielmehr, und zwar mit kritischer distanz, zivilisatorische gefahren, das heißt ambivalenzen der gewalt und die auch kultivierten erscheinungsformen derselben. wenn beim lesen oder hören mißverständnisse auftreten, die zu abwehrreaktionen führen, so vermutlich, weil manche das beschriebene allzu wörtlich auffassen oder das fiktive und spielerische daran sowie die zeitkritische und teils auch philosophische dimension darin entweder ignorieren oder ablehnen. »In meinen Texten geht es um falsches und künstliches Leben, das Spiel mit Zufall und Notwendigkeit, Sucht und Selbstvernichtung, um den Klimmzug des Einzelnen in der Masse, das Groteske anstrengender Lebenskunst, das Leben als Kommunikationsbordell, die Entwirklichung durch die Massenmedien … :Menschenpark als Superzoo.« postuliert ulrich bergmann selbst in >No sports!<. »Die Manierismen unserer Zeit werden manieristisch dargestellt.« heißt es im fragment >Totenblätter<.
»Die Technik flößt mir so viel Furcht ein wie die deformierte und deformierende Seele. Ich fürchte eine zuschlagende Faust wie eine explodierende Bombe« schreibt der autor im fragment >Die Bombe tickt im Hirn<. der sprengstoff lagert in den seelen. und die sehnsucht nach nicht-profanem kann sich im modernen alltag mit vormoderner gewalt austoben. selbstmordattentäter, die hinter jahrtausende alte sublimierungen des opfers zurückfallen, das im reinen symbol endete, während sie die opferung wieder leibhaftig geschehen lassen, bekommen durch ihr rituelles selbstopfer etwas heiliges, aber eben pervertiert heiliges, das westlichen menschen lebensreal doppelt fremd ist, da sie das heilige kaum noch kennen und das pervertierte überwiegend virtuell konsumieren. doch entsprachen die attentäter von new york nicht einer ästhetischen lust am grauen und an der gewalt, die in den westlichen kulturen latent vorhanden ist? allerdings unterschieden sie dabei nicht zwischen virtueller und realer gewalt. und nicht zuletzt diese barbarische grenzüberschreitung, und damit die vertauschung und vermischung der sphären, die uns ästhetisch so vertraut vorkommt, wirkte schockierend. jean baudrillard schrieb dazu: »Diese terroristische Gewalt ist nicht „real“. In gewissem Sinne ist sie schlimmer als das: sie ist symbolisch. Gewalt als solche kann von vollkommener Banalität sein. Nur symbolische Gewalt vermag Singularität zu erzeugen«.
2008, überarbeitet 2013.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006