Canale Cinque

Eine Maske ist keine Garantie, nur ein Versprechen.

 

Giorgia stockte der Atem. Sie saß vor dem Monitor und schaute sich die Aufzeichnungen der Konkurrenz an. Elena stand am Fenster und fummelte an ihrer halboffenen Bluse herum. Sie spielte mit den Männern auf der Piazza. Giorgia sprang auf, dabei fiel ihr die Espresso-Tasse auf den Steinboden, aber Elena sah und hörte nur nach draußen. Der Silberlöffel! Giorgia warf den Löffel scharf durch die Luft. Elena raufte gerade mit hoch erhobenen Armen ihr blondes Haar, als das Metall ihre Stirn streifte und durchs Fenster flog. „Komm endlich!“, rief Giorgia, „das musst du sehen!“

Elena löste sich nur schwer aus ihrem Rahmen. Als sie vom Fenster zurücktrat, blieb ihr Bild noch eine Weile auf der Piazza, dann fiel das helle Tageslicht ins Zimmer und der Aufschrei der enttäuschten Männer. Elena schloss die Augen und lächelte. Giorgia zog sie am Arm zu sich auf die kleine Bank vor dem Monitor. „Canale Cinque!“, fauchte sie. Auf dem Bildschirm erkannte Elena den Skandal: „Striscia la notizia“ wurde von einer jungen Frau im hochgeschlossenen Kleid moderiert. Nahaufnahme. Die Knöpfe des festen schwarzen Stoffs reichten bis zum Kragen, der Kragen ging bis ans Kinn. Schon das war zuviel, dachte Elena. Die Kamera kreiste um die Moderatorin, eben wurde ihr Rücken gezeigt, der Tisch, an dem sie saß, war gerade ausgeblendet. Und die Velina? Ist sie…? Der lange schwarze Zopf der Schönen fiel über die weiße Haut, die der Rückenausschnitt bis zum Steiß freigab. Die Frau sprach die Nachricht mit leicht erregter Stimme, die Rückenmuskeln flimmerten im Lichtkontrast. Leise Rhythmen waren der Nachricht unterlegt. „Berlusconi geht zu weit!“, sagte Giorgia. Dann kam der Tisch ins Bild. Die Kamera löste sich langsam vom Rücken, der Ton fuhr hoch, das Schlagzeug ging schneller, unmittelbar vor den kalten Augen der Frau lag der braunhäutige Mann im weißen Slip. Ein kleines Dreieck nur, in zartem Blau aber hob sich der Ätna ab, der Berg zuckte im Takt. „Ich weiß nicht“, sagte Elena. „Ich auch nicht“, antwortete Giorgia. Die Kamera zoomte nah an den Ätna heran. „Aber verdammt gut gestylt!“ Eine zweite Kamera blendete nun den ausgestreckten Arm des Jünglings ein, die Hand zeigte auf die Stirn der Moderatorin. „Das ist der Topf, in dem die Lava kocht!“, sagte Elena. Die Hand verblasste und verschwand. „Ich weiß nicht, ob wir das toppen können.“ Wenn wir Enrico ausziehen, dachte sie, und auf ihm reiten, bis er die letzten Worte im Orgasmus herausstößt, haben wir eine Chance. Die Moderatorin lächelte. Elena verwarf den Gedanken.

Als der rot lackierte Mund, in dem sich der Nabel des Jünglings spiegelte, die letzten Worte der Nachricht sprach, schwoll die nun ganz taktlos gespielte Musik an, aus dem Ätna schossen die Buchstaben heraus und blieben wie ein Feuerwerk auf der Stirn der Moderatorin stehen: S-T-R-I-S-C-I-A. Aber nur kurz. Dann fielen sie, während die Musik abebbte, wie Sternschnuppen vom Himmel. Die Frau lächelte. Vielleicht etwas zu spöttisch, dachte Giorgia. Sie senkte den Kopf und blickte zu Boden. Aha, dachte Elena. Die Musik kam hart zurück. Dann explodierte der Ätna wieder: L-A-N-O-T-I-Z-I-A… Wieder stand das Wort der Sprecherin in die Stirn geschrieben. Aber diesmal fiel die Schrift nicht vom Himmel. Die Moderatorin warf den Kopf nach links, dann, heftiger, nach rechts, und ihr schwarzer Zopf peitschte die Buchstaben von der Stirn, während der Ätna langsam verschwand. Die Hand des Mannes, die eben noch auf die Stirn der Moderatorin gerichtet war, fuhr nun aus ihrem Kopf, die Augen ganz geschlossen, und zeigte nach vorn. Die beiden Frauen wichen zurück.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.