Seit die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Luchterhand beendet wurde, erscheint das Gesamtwerk unseres Größten bei Steidl in Göttingen, einem Verlag, der auch in buchkünstlerischer Hinsicht Akzente setzt. Ich habe Günter Grass seit meiner Jugend verehrt. Daran hat sich bis heute nichts geändert – auch wenn ich seine frühesten Bücher – Die Vorzüge der Windhühner, Gleisdreieck, Die Blechtrommel, Hundejahre und Katz und Maus für seine stärksten halte. [Halt, Einspruch: Im Krebsgang hat mich ebenfalls restlos begeistert – und Ein weites Feld habe ich – wahrscheinlich auch wegen meiner Vorliebe für Theodor Fontane – sehr, sehr gern und mit Gewinn gelesen.] Nun liegt seit September 2003 mit Letzte Tänze wieder ein Gedichtband vor. [Den Band davor – Novemberland. 13 Sonette (1993) – fand ich wenig überzeugend.] Ich hörte von Jubelstürmen alternder Kritikaster, die ihn einst auf dem weiten Schlachtfeld der Literaturkritik in Grund und Boden zu stampfen versuchten, ich las von „Peinlichkeiten“ [Dies ist nun allerdings kein literarisches Kriterium, das etwas über den Wert von Letzte Tänze auszusagen vermag, sondern uns eher etwas über den Rezensenten verrät.] im „Kulturteil“ einer Kölner Tageszeitung. Letzte Tänze ist ein großformatiges, großzügig gestaltetes, in rotes Leinen gehülltes Buch, in dem sich auf knapp 100 Seiten die Anzahl der Gedichte und Bilder in etwa die Waage hält. Es hat gerade bei diesem Gesamtkunstwerk Letzte Tänze, das einen lyrisch-künstlerischen Schaffensrausch des ja nicht mehr ganz jungen Günter Grass dokumentiert, überhaupt keinen Sinn, anhand einzelner, womöglich weniger überzeugender Gedichte ein Urteil abgeben zu wollen. Insbesondere in Letzte Tänze ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Hier korrespondieren Bild und Wort und Wort und Bild, so daß wir kaum von einem Gedichtbuch im engeren Sinne reden sollten. Ein Kunstbuch mit Gedichten? Was auch immer – ich bin froh, es zu haben. Wenn wir nun ausschließlich das lyrische Format in den Vordergrund stellen, ist der Band Lyrische Beute (siehe „Ameisenjagd“), in dem Grass seine gesammelten Gedichte präsentiert, natürlich von ganz anderem Kaliber. Hier finden Sie die „unsterblichen“, auch nach 2000 noch hochlebendigen Gedichte von Günter Grass, der von sich sagt, immer nur „Gelegenheitsgedichte“ geschrieben zu haben. Mit Günter Grass bin ich der Überzeugung, daß das risikoreiche „Gelegenheitsgedicht“ dem auf sicherem Terrain angesiedelten, routiniert verfaßten „Laborgedicht“ weit vorzuziehen ist.
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Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.