Als der Bierkrug noch 45 Kopeken kostete, ging Rudnikow an den heißen Sommerabenden ins SHIGULI am Leninskij Prospekt und aß dort Wobla zum Bier, oder er ging tagsüber ins METELITZA, näher zum Kreml hin, wo er sich zum Kaffee einen Becher Eisgestöber bestellte.
Das war in der Zeit seiner Lehrtätigkeit in Moskau, wo er sehr bescheiden wohnte und billig leben musste, und so war das Eisgestöber mitten in der Woche eine kleine Apotheose seines Lebensstils.
Rudnikow lebte allein mit sich und den Büchern. Es war dies auch die Zeit seines Lebens, wo er den Alltag in immer feineren Träumen und Fantasien erlebte, sodass er sich später oft nicht genau erinnern konnte, ob er, was geschehen war, nur geträumt oder ersonnen hatte. Er war manchmal sogar unsicher, ob das, was er erlebte, nicht schon geschehen war. War dies schon das Nachlassen der Aufmerksamkeit auf das Leben, wenn Rudnikow in seinen Büchern verschwand, oder war es, ganz im Gegenteil, nur gesteigertes Leben, wenn die Bücher in Rudnikow verschwanden, sodass die Erinnerungen gegenwärtig wurden und zugleich das Kommende schon gewusst schien? Seine Schüler wussten es auch nicht. Wenn die Bücher aus Rudnikow wieder herauskamen, erzählte er sie wie sein eigenes Leben, und sein eigenes Leben erzählte er, wie wenn der Alltag aus lauter Mythen bestand.
Eines Tages geschah, was geschehen musste. Rudnikow hatte mit seinen Studenten den „Oblomow“ besprochen, und die Frage, ob sein Leben mit dem Erlöschen begann, war offen geblieben. Oblomow liebte das Leben, dachte Rudnikow, als er im METELITZA auf das Eisgestöber wartete, aber er konnte nicht einen einzigen Menschen wirklich lieben. Da kam das Eisgestöber. Als hätte Rudnikow laut gedacht, erwartete er die Antwort auf seine Selbstbefragung von den Gästen im überfüllten Eiscafé. Er schaute sich um. Am Tisch hinter ihm sah ihm eine schöne Frau zu, als habe sie auf Rudnikows Blick nur gewartet. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Hut mit Henkel und zierlichem Bauch, es war eine auf den Kopf gestellte Kaffeekanne, und als Rudnikow genau hinsah, war der Hut aus Porzellan. Da bekam er Angst, die Kanne fällt ihr vom Kopf und der Hut zerscherbt ihm vor den Füßen, er sprang vom Stuhl auf, das Löffelchen vom Eisgestöber in der Hand, und rief: Nehmen Sie die Hände hoch, halten Sie Ihren Hut fest! Aber sie schaute ihn scharf an und erwiderte: Kümmern Sie sich um Ihr eigenes Porzellan! Und schon neigte sie herausfordernd den Kopf leicht nach hinten, ohne die Augen von Rudnikow wegzunehmen, bis das Porzellan zu schwanken begann. Sie riss die Augen weit auf und warf den Kopf nach hinten. Wie schön sie ist! Der Hut fiel herunter, aber das Porzellan schlug nicht auf den Boden.
Die Kanne baumelte an einem Faden. Die Leute im Café starrten alle auf sie, auf ihn. Sie grinste. Wie schön sie ist! Da geschah das Entsetzlichste: Rudnikow schlug zu. Ich schlug die flache Hand hart ins Gesicht und sagte kalt: Jetzt hast du einen Grund mich zu lieben.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.