Das Erste, was ich sehe, nachdem ich die Wohnung betreten habe, ist das Buch „In memoriam Anita Pichler (1948-1997)“ mit dem berührenden Titel „Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein…“. Es ist das gleiche Buch, das monatelang auf meinem Wandverbaukasten in meiner Wohnung in Wien gelegen hat und das ich von Zeit zu Zeit immer wieder in die Hände genommen habe, um darin zu blättern, ohne es jemals wirklich zu lesen. Schließlich habe ich es weggeräumt. Ich wollte nicht mehr an diese traurige Geschichte, den allzu frühen Tod dieser Schriftstellerin erinnert und somit mit meinem eigenen Tod konfrontiert werden.
Ich erinnere mich: Immer wieder habe ich damals – so wie jetzt in Anita Pichlers Wohnung in Venedig – auf das Titelblatt des Buches, auf das Cover geschaut, auf das formatfüllende Foto von Anita Pichler. Das schöne, etwas herb anmutende Gesicht, von schwarzer Lockenpracht umrahmt, die dunklen Augen, der halb geöffnete Mund, die weißen Zähne, die linke erhobene Hand mit der ausdrucksstarken Geste, der Ring am Finger, der Blick dieser Frau in ihre eigenen Gedanken hinein.
Immer hat mich dieses Gesicht fasziniert, ja auch berührt. Eine Frau, die mir gefällt, die mir gefallen hätte, vielleicht gefallen hat, so ich ihr begegnet wäre oder wirklich bin; möglich, ich weiß es nicht, denke es war so, vielleicht. Geredet haben wir miteinander nicht, das weiß ich, daran würde ich mich erinnern. Daß sich irgendwann einmal unsere Blicke begegnet sind, schließe ich nicht aus, ja glaube ich fast; es ist mir jedenfalls so, als wäre das eine Gewißheit. Diese Person ist mir irgendwie vertraut, obwohl ich sie nicht kenne, weil wahrscheinlich nie kennengelernt und somit nicht gekannt habe. Es kann aber sein, daß wir uns einmal begegnet sind, im aneinander Vorbeigehen. Oder daß wir uns gegenüber gesessen sind in einer Gruppe von SchriftstellerInnen, zum Beispiel nach einer Lesung im Literarischen Quartier der Alten Schmiede in Wien. Da sind wir nach einer Lesung oft ins damals noch bestehende „Weinhaus Koranda“ gegangen, Ecke Wollzeile-Dominikanerbastei, dort wo heute das „Plachutta-Rindfleischparadies“ ist. All das kann sein, hätte sein können, möglicherweise, vielleicht.
An die Stimme, an eine dunkle, jedenfalls sehr melodiöse Stimme mit einem ganz bestimmten Tonfall und einer Südtirolerischen Dialektfärbung glaube ich mich erinnern zu können. Wenn ich daran denke, wenn ich mein Mich-Erinnern betätige, glaube ich, mich daran erinnern zu können, an diese Stimme, an eine ganz bestimmte Stimme jedenfalls, einem zu bezeichnenden Menschen zugehörig und zuordbar. Es ist, als habe ich diese Stimme in mir, als habe ich sie aufgehoben, als sei mir diese Stimme geblieben, nicht nur in Erinnerung, sondern als ein sehr persönliches Relikt; wie ein Vermächtnis, wie ein Erbstück, wie etwas, das die Bestimmung hat, weiterzubestehen, nicht zu verschwinden.
Von irgendwoher muß diese Stimme irgendwann einmal in mich hineingekommen sein, so daß sie jetzt in mir und abrufbar ist, wie ein Erinnerungsbild, wie irgendeine andere Stimme von jenen Stimmen, die ich in mir gespeichert habe und die Personen zugehörig sind, die entweder noch leben oder ebenfalls schon tot sind, manche davon schon sehr lange, auch schon seit Jahrzehnten. Diese Stimmen in mir, sage ich, sind keine Einbildung, sondern Wirklichkeit, vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit. Vergangenheit und Gegenwart treffen sich in einer solchen Stimme, fallen in einer solchen einzigen Stimme zusammen, wie auf einen Punkt, einen Schnittpunkt; oder einen Notenpunkt, für den eines Paukenschlages, eines einzigen, letzten Paukenschlages, auf den die Stille folgt.
Ich schlage das Buch auf, irgendwo, so wie Chassidim den Talmud aufschlagen und die erste gelesene Textstelle deuten und zu einer Betrachtung als Ausgang nehmen. Ich lese diese Textstelle, eine Tagebuchnotiz, lese diese und anschließend die darauf folgende. Um ein Telefonat geht es, zu Weihnachten, als Anita Pichler schon sehr krank war. Der Text berührt mich. Er dringt in mich ein, emotionalisiert mich. Dann lese ich den Namen des Autors dieses Tagebuchtextes. Zoderer, lese ich, Joseph Zoderer. Und dann den lapidaren Satz: „Anita ist am Sonntag gestorben.“
Zoderer, der Südtiroler, der mit dem wachen, sanften Blick. Kennengelernt haben wir einander kurz beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß, 1981. Lange her. Eine Verbindung oder eine kollegiale Beziehung haben wir nicht miteinander gehabt. Aber manchmal ist er mir eingefallen; dann wenn ich an Südtirol gedacht oder mich dort aufgehalten habe, in Brixen, Bozen oder Meran, oder bei den Tiefenbrunners auf Schloß Enterklar bei Kurtatsch bei einem Viertel Wein gesessen bin, mit meinem ältesten Bruder, auch knapp vor seinem Tod. Also der Zoderer, sage ich laut vor mich hin; der hat die Anita Pichler gekannt, hatte eine enge freundschaftliche, ja liebevolle Beziehung zu ihr. Südtiroler unter sich oder was anderes? Ja, auch das Schriftstellersein kann verbinden, stellt Beziehungen her zwischen Kolleginnen und Kollegen, zwar selten ehrliche, aber doch auch. Den Zoderer kenne ich kaum, literarisch von einem seiner Romane; aber ich habe ihn nie vergessen, warum weiß ich eigentlich nicht, habe mich das auch nie gefragt.
Damals, schon wieder vor vielen Jahren, sind wir einander in der Wiener Innenstadt begegnet. Anstatt nur aneinander vorbeizugehen sind wir stehengeblieben und haben zu reden angefangen. Es war schon spät am Abend, dunkel. Es muß in der eher kalten Jahreszeit gewesen sein. Er mußte zur Filmvorführung des Filmes „Die Walsche“, nach seinem Roman gedreht, ins Votivkino. Er hatte bis dahin noch Zeit. So sind wir in den Esterházykeller „auf ein Achterl“ gegangen. Natürlich sind es wieder einmal, jedenfalls bei mir, mehrere Achterln geworden. Wir haben geredet und geredet und dabei die Zeit vergessen, d.h. der Zoderer hat den Zeitpunkt des Filmbeginns verpaßt. Peinlich. Er sollte ja vor dem Film ein paar Worte sagen. „Sagst sie halt jetzt nachher“, habe ich gemeint. „Aber jetzt mußt du dir ein Taxi nehmen und schnell hin.“ Seither haben wir uns nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht mehr miteinander gesprochen.
Jetzt lese ich Zoderers Beitrag in diesem Buch über Anita Pichler. So zum Beispiel seine „Worte zum Begräbnis“ von Anita Pichler in Sulden am 14. April 1997. „Liebe Anita – Du warst eine große Dichterin, Du warst ein guter stiller feinsinniger Mensch. Du warst neugierig, Du hast gerne zugehört, Du hast Dich gerne gefreut, Du hast die Freude geliebt, Du hast auch die Trauer geliebt, Du hast schon lange den Abschied geübt…“ Wiederum Worte, die mich berühren, in diesem Augenblick, die darüber hinaus eine Beziehung herstellen, vielleicht eine über diesen Augenblick hinaus, eine von Nachhaltigkeit. Zusammenführung, könnte man sagen. Zusammenführung mit der schon lange toten Anita Pichler durch den gemeinsamen Schriftstellerkollegen Joseph Zoderer, den ich von früher her kenne, aus einer Zeit noch vor Anita Pichlers Tod. Etwas wie Nähe entsteht in diesem Augenblick, vielleicht auch eine Beziehung auf Dauer, trotzdem eine Beziehungsperson fehlt, sie ist aber präsent durch ihre und in ihrer Literatur. Und in der Abbildung ihres Gesichtes sowie durch ihre Stimme, die, auf einer CD konserviert, die dem Buch beigelegt ist, anhörbar ist, die ich aber noch nicht gehört habe. Im Augenblick will ich davon auch gar nichts wissen. Ich will mir meine Vorstellung bewahren. Diese Einbildung, diese Vermeintlichkeit ist stärker, denke ich, als es die Tatsächlichkeit nach der Stimmenfeststellung sein könnte. Die Vorstellung paßt besser zum Ganzen als die reale Wirklichkeit.
Ich sitze in Anita Pichlers ehemaliger Wohnung in Venedig, habe die erste Nacht hier verbracht, habe schon etwas gegessen und getrunken, etwas gelesen, beim Fenster hinausgeschaut. Ich war schon draußen auf dem Markt, auf dem Fisch- und dem Gemüsemarkt, habe eingekauft fürs Kochen, bin auf der Rialtobrücke gestanden, habe die Schiffe beobachtet, auf den Canal Grande geschaut, auf die phantastische Architektur, habe tief eingeatmet, mich an dem Anblick erfreut. All das war am frühen Morgen. Es ist ein kalter, nebeliger Tag. Ein unfreundlicher, könnte man sagen, wäre man nicht hier in Venedig, sondern anderswo. Es ist Anfang Februar. Ich gehe dieselben Wege, die Anita Pichler gegangen ist, als sie noch lebte. Ich lebe in derselben Wohnung, koche in derselben Küche, schlafe im selben Zimmer, vielleicht im selben Bett. Schafft das Nähe? Oder ist das nur eine Alltagsbanalität und von keiner tieferen Bedeutung? Was verbindet uns eigentlich? Liegt das im Jetzt oder kommt das später?
Ich habe den Vorhang hinter mir, der den Raum etwas abdunkelt, zur Seite geschoben, damit es heller wird. Am Morgen braucht man Tageslicht. Der Nebel hat sich verflüchtigt. Der Himmel ist leichter geworden. Man ahnt schon die Sonne an einem bestimmten Punkt. Das wird heute ein schöner Tag. Ich klappe das Buch zu, sehe auf dem Umschlag vorne das mir vertraute schöne Gesicht von Anita Pichler. Ich betrachte ihre schwarze Lockenpracht, die ausdrucksstarke Geste ihrer Hand. Und denke mir: Was für eine starke schöne sympathische Frau. Ich hätte sie gerne zu ihren Lebzeiten gekannt.
Venedig, 1.-9.2. 2007
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