Hubschrauber

Das war knapp, dieses in die Zeit, die Welt geworfen sein, sich versetzt fühlen und bemerken, dass dies nur eine der möglichen Realitäten sei. Die Sonne prasselte als Strahlengeschosse herab und ließ Gedanken im Ansatz verdorren. Er hatte die Beine im leichten Schneidersitz, das heißt nicht in einer jener unbequemen und ermüdenden Yogastellungen, die immer angepriesen und nie erreicht wurden, gekreuzt und schaute betulich auf das Treiben der Kinder am Pool, die sich mit einem großen gelb-grünen Schwimmreifen, mindestens 90 Liter Inhalt, vergnügten, mal die Taucherbrillen aufhatten, mal nur so tobten. Scheinbar gab es nur diese Kinder auf der Welt, und nur diese Vögel, deren Zwitschern aus den Apfelplantagen ringsum zu hören war, und nur diesen verfluchten Hubschrauber, der schon seit Stunden immer wieder die gleichen Bahnen zog, Touristen im Zehnminutentakt durch die Berge zu befördern, pro Person 55 Euro. Gute Einnahmequelle für ein Sonntagshobby: Bei sechs Passagieren pro Flug und vier Flügen pro Stunde immerhin so an die 1300 Euro, abzüglich der Stundenlöhne für die Mitarbeiter, Wartung und Sprit blieb ein guter Batzen übrig, das machte für die Wochenenden wirklich Sinn, also schnell einen Hubschrauberschein machen und ins Geschäft einsteigen, Geld verdienen, angenehmes Geld. Der Kauf des Hubschraubers würde sich schnell selbst finanzieren. Er hatte sich eigentlich Gedanken um die Zukunft machen wollen, Herr Nipp, hatte wie meist im Interim die Welt erklären wollen, war wie immer aber an einer Kleinigkeit hängen geblieben, hatte sich die Gedanken an einer Lächerlichkeit aufgeschrammt. Das Leben könnte so einfach sein. Dabei, nebenan liegt ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, ein Formulierung, die er überhaupt nicht ausstehen konnte, was sollte dies schon heißen, in die Jahre gekommen, sollte es meinen, dass man sich nichts mehr zu sagen habe, gealtert sei oder einfach nicht im Diesseits weilte, wann fing das In-die-Jahre-kommen eigentlich an, selbstzufrieden mit ihren kleinen Fehden, auszukämpfen auf der Metaebene des sich nicht alles Gönnens. Im Wissen eines gewissen Abschlusses satt. Wir haben einiges erlebt, den Rest zumindest gelesen oder im Fernsehen allabendlich verkonsumiert, wer will uns was wollen, nur unsere Rente, die erwarten wir. Im Hintergrund kläfft seit Stunden fast unbemerkt ein wahrscheinlich kleiner Köter, die Stimme sagt, ich bin klein und keiner will auf mich hören, das macht mich wütend. Die Kinder haben inzwischen das Wasser verlassen und den Sonnenschirm zum Kippen gebracht. Die Mutter bekommt schlechte Laune, gönnt ihr mir denn keine Ruhe, warum zieht ihr nicht die Decke zum Schatten, müsst ihr alles kaputt machen, der wird der Sache doch gar nicht mehr Herr. Mama, soll ich dir was vorlesen, und die Kinder amüsieren sich, es funktioniert, die Mutter sauer, der feiste Vater teilnahmslos in seinem Liegestuhl in Gedanken, wenn es welche sind, wahrscheinlich eher Jägermeisterträume, versenkt. Jägermeisterhimmel, zufrieden berauscht. Bemerkt die sich im Nabel tummelnden Fliegen nicht, oder kann sie nicht sehen, jedenfalls scheinen sie ihn nicht zu stören. Der alte Herr bedauert die Hubschrauberfluggäste, die sehen doch jetzt da oben gar nichts mehr, die Berge haben sich langsam hinter den Schleiern aufgezogener Wolken versteckt. Bergschleiertänzer im Jahrmillionentakt. Ein kleiner Olivenbaum, seit einigen Jahren auch in diesen Gefilden modisch beliebt, soll wohl das volle Italienfeeling erzeugen und steht doch nur peinlich bemüht im Bergbauerndorf herum. Die Bienen, hinter dem alten Elternhaus stehen einige Beuten, ergötzen sich an der Vielfalt einheimischer Gewächse. Seltsam, denkt Herr Nipp, dass trotz der ständigen Giftkeule unter den Bäumen sich noch so viele Blumen und Tiere tummeln, wie muss es früher hier ausgesehen haben. Glockenblumen in verschiedenen Variationen, Kreuzkraut, Skabiosen, sogar Baldrian, gestern hat er einige Meter vor sich einen Wiedehopf gesehen, er flog auf, vorwurfsvoll. Die Kinder lesen inzwischen in irgendeinem Comic, der größere Junge liest vor. Sie diskutieren scheinbar die Bilder, werden zu naiven Kritikern. Das Bild habe ich schon mal gesehen, in einem anderen Comic. Und der Hubschrauber fliegt seine Runden.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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