Kira Iorgoveanu-Mantsu

 

Die DichterInnen der kleinen Völker in Europa sind in vieler Hinsicht benachteiligt. Ihre Stimmen verlieren sich am Rande der poetischen Ströme aus den sprachmächtigen Völkern, ihre Texte führen ein Aschenputtel-Dasein zwischen der aufgeputzten Lyrikbänden der lyrischen Nobelpreisträger und ihre poetischen Karrieren verlieren sich zwischen Brotberufen und gelegentlichen Veröffentlichen in irgendwelchen Anthologien, die schon bald nach ihren Premieren auf staubigen Bibliotheksregalen ein trauriges Dasein führen. Der vorliegende, liebevoll mit Abbildungen künstlerischer Werke ausgestattete Band mit dem doppelten Titel auf mazedoromanisch und französisch 20007 in Belgien erschienen, könnte ein ähnliches Schicksal erwarten, wenn, ja wenn es nicht um eine besonders wertvolle Sammlung von Gedichten und einigen Prosatexten aus einer Sprache handelt, in der in fünf südosteuropäischen Ländern auf isolierten Sprachinseln kommuniziert wird. Das Mazedoromanische, eine romanische Sprache, die gegenwärtig im Süden von Rumänien und von Bulgarien sowie in den Grenzgebieten zwischen Griechenland, Albanien und Makedonien benutzt wird. Für die Übersetzerin und Sprachwissenschaftlerin, die der Anthologie eine Bibliografie beigesteuert hat, Dr. Mariana Bara, sind es die Abkömmlinge der seit 148 v. Chr. romanisierten autochthonen Makedonier, Thraker, Illyrer und Griechen. Zu diesem Zeitpunkt schufen die römischen Eroberer die Macedonia Provincia, in deren Achse sich die Via Egnatia erstreckte, eine Straße, die das italienische Kernland mit der Adria verband. Auf diesem Territorium siedelten die Aroumains, wie sie Bara nennt, eine Volksgruppe, die rund eine Million Menschen umfasste. In den folgenden Jahrhunderten wurden sie aufgrund von Kriegen und administrativen Maßnahmen aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten vertrieben und bildeten seit dem 18. Jahrhundert eine Diaspora, die im 20. Jahrhundert neben den fünf Siedlungsgebieten auch verstreute Inseln in Nordamerika aufweist.

In ihrer fundierten Einführung benutzt die Herausgeberin, Kira Iorgoveanu-Mantsu, Philologin und Redakteurin, den Begriff ‚Macédonarmans’ (Mazedoromanisch), um die These von dem ursprünglichen Siedlungsgebiet der Makedonier zu untermauern. Dabei bezeichnet sie die Makedonienstämmigen als „Rumänen vom Süden der Donau“, die vom Norden, dem romanisierten Danubien, abstammen (vgl. S. 8). In ihren folgenden Ausführungen bezieht sie sich auf Studien des Linguisten Johann Thunmann (Untersuchungen über die Geschichte der östlichen europäischen Völker, Leipzig 1774) und vor allem auf die umfangreiche rumänische linguistische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie hatte den Begriff ‚aromân’ (fr. aroumain) eingeführt, um zu zeigen, dass „die beiden Völker, das balkanische Latein im Norden (die Rumänen) und im Süden der Donau (die Mazedorumänen) ein einziges Volk darstellen.“ (S. 9) Was die gängige Terminologie im internationalen Verkehr betrifft, so habe sich, so Mantsu, zu Beginn des 21. Jahrhundert das Makedonarmān (fr. macédonarman) durchgesetzt und ist auch in den Empfehlungen des Europarats festgeschrieben. Als europäische Literatursprache ist das Mazedoromanische seit 1997 anerkannt und erfreut sich unter der Obhut von Vasile Barba, Präsident der Union für die mazedoromanische Sprache und Kultur, seit 1984 einer regen Publikationstätigkeit. Der Sturz der kommunistischen Regime in Rumänien, Bulgarien und Albanien hat seit 1990 diese Veröffentlichungsaktivitäten auch in diesen drei Ländern verstärkt. Die vorliegende Anthologie mit Gedichten von Autoren aus den verschiedenen Siedlungsgebieten sei, so Mantsu, ein Zeugnis der Wiederaneignung einer spezifischen Identität, ein Sieg der Dichter, die … den Sieg der Sprache verkünden. Sie ist ihre Antwort auf die historischen und linguistischen Spekulationen, die Verwirrung um ihre Vergangenheit und ihre Kultur stiften.“ (S. 15)

Was also haben die in ihrer mazedoromanischen Sprache dichtenden Autoren wieder entdeckt? Ist sie „ein Schrei, durchsetzt von Leid und Nostalgie, ein Alarmsignal“? (Vgl. S. 16) Ist die über 2000 Jahre alte Sprache in Gefahr? Mit welchen poetischen Mitteln will sie sich retten? In welcher Weise äußern sie ihren Stolz auf Alexander den Großen? Welche kulturellen Elemente aus der Römerzeit siedeln sich in ihren Texten an? Wie werden sie in der zeitgenössischen Kultur der Moderne und deren postmodernistischen Ausdifferenzierungen verarbeitet? Das älteste Zeugnis in der Anthologie, deren Texte nach dem Geburtsjahr der Autoren angeordnet sind, gehört Constantin Colimitra (1910-2001), der über seine Sprache (limba) dichtet: Meine Wurzeln steigen / In die entfernten Höhen / Und ich kann nicht verbergen / Dass meine Mutter ein schöner Stern war! (S. 20f. Übertragung WS) Er bezeichnet seine Sprache, nach seiner von Empathie erfüllten Reise zu seinen Vorfahren, als „honigsüß und frisch wie eine Rose.“ Verzweifelt hingegen klingt der Gesang der Mazedoromanen bei Steryiu Dardaculi, einem 1947 in Griechenland geborenen Dichter: „Die unglücklichen Mazedoromanen zerstreuen sich / so wie Blätter im Wind … / Sie verlieren ihre Bräuche und ihre Sprache / Ihr Haus und ihren antiken Hof …“ (S. 118) Und Toma Enache (Jg. 1970), in der Dobrucha (Rumänein) geboren, beschreibt Das Herz der Armans“: „Das Herz der Armans muss ausgegraben werden / denn es bewohnt einen zu anderen Gefühlen erhobenen Körper / Das Herz der Armans muss wieder entdeckt werden / bedeckt und exhumiert, denn ohne es / stirbt der Arman!“ (S. 294).

Sieben Abbildungen mit gegenständlichen und abstrakten Motiven schmücken die Anthologie, verleihen ihr eine Atmosphäre, die zwischen rustikalen Elementen einer vergangenen Kultur und einem Blick auf moderne Ornamentik schwankt. Sie vermitteln also die flüchtigen Impressionen einer Diaspora-Gemeinschaft, die um ihr Erbe kämpft.

Das Nachwort aus der Feder von Nicolas Trifon reflektiert die Situation der Autoren, die sich des Mazedoromanischen bedienen. Es wendet sich gegen jegliche Versuche, diese auf so wunderbare Weise gerettete Sprache zu verstaatlichen, sie an eine nationale Kultur anzuketten. Die im wallonischen Belgien erschienene Anthologie, finanziell unterstützt von mehreren Stiftungen, entstanden auf der Grundlage von unermüdlichem Fleiß und hohem Engagement, ist nicht nur ein Beweis für europäische Offenheit, sondern vor allem ein Zeugnis der vielstimmigen Kultur Europas. Die beigefügte Bibliographie und die zahlreichen Verweise auf Sekundärliteratur runden den in jeglicher Hinsicht überzeugenden Eindruck einer gelungenen Publikation ab. Dank auch der zahlreichen ÜbersetzerInnen, die die mazedoromanischen Originaltexte in ein flüssiges, gut rezitierbares Französisch verwandelt haben.

 

 

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Kira Iorgoveanu-Mantsu. Photo: Pop-Verlag

Noi, poetslji a populiloru njits. Nous, les poètes des petits peuples. Poèmes en macedonarman (Aroumain). Choix des poèmes, notes bio-graphiques, introduction: Kira Iorgoveanu-Mantsu. Traductions: Mariana Bara, Nicolas Trifon. Crombel: Charleroi 2007, 333 S.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.