Dass der Erzähler lügt, sich und den Leser betrügt, bewusst und unbewusst, ist dem Historiker nicht fremd – eine historische (darstellende = erzählende) Quelle, verrät sich in ihrer ideologischen Verbiegung genauso wie eine Erzählung in der Selbstrechtfertigung einer Erzählerbiografie, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen, und zwar dergestalt, dass eine lügende Quelle oder ein ‚lügender‘ und ‚betrügender‘ Roman leichter durchschaubar und insofern, didaktisch gesehen, nützlicher ist für den Erkenntnisprozess des Lesers als eine wahrhaftige Quelle oder ein wahrhaftig realistischer (Tatsachen-)Roman; mal abgesehen von der künstlerisch bedingten Wahrheit, die sich aus der Sprache und dem Schreiben selbst ergibt, wenn es sich um ein Kunstwerk handelt, wenn es also um die Verallgemeinerung einer konkreten Realität in relativ deutungsoffenen Bildern geht. Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ zum Beispiel können – als Parodie der (Problematik der) Künstlerexistenz gelesen werden. Und so gesehen ist dieser Roman meist erhellender als graue (germanistische) Theorie.
Interessant finde ich die These, dass das Wahrheitspotential der Sprache den Willen des Schreibenden und Lesenden übersteigt. In der Tat kann dies dann der Fall sein, wenn der Schreibende beim Schreiben sich tatsächlich in einem Erkenntnisprozess befindet – und dies ist bei guter Literatur immer der Fall. Literatur muss dem Leser wehtun, wenn sie wirklich gut ist. Und zwar in doppelter Weise: Weil sie den Leser zu Erkenntnissen, also in den Erkenntnisschmerz treibt, und weil die Aufhebung der schmerzvollen Realität durch die ästhetische Formung das Aufwachen aus unserem (alltäglichen) Eskapismus einen zweiten Erkenntnisschmerz bewirkt, und zwar doppelt, weil dieser Schmerz zugleich eine schmerzende Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies gebiert.
Ich habe für das Schreiben sehr verschiedene Motive. Teils ist es reine Lust an der Sprache – oder Spiellust. Teils verarbeite ich Dinge, die in mir sind. So gesehen sind manche meiner Erzählungen auch Zweitträume oder Tagträume, oder Erkenntnisvorgänge, die im Rahmen eines Kunstwerks ins Allgemeine erhoben werden, wenn sie mir gelingen. Und mich treibt die Lust an der Erschaffung einer verbalen Wirklichkeit an, die einen Erkenntnisprozess enthält und beim Leser (in seiner Deutung, falls er sie leistet) evoziert. Was die Wahrheit angeht, so finde ich den Gedanken, dass der Dichter wie der Mathematiker jeweils seine Sprache als Erkenntnisinstrument benutzt, überzeugend. Ich habe schon oft gedacht: Ein erzählerisches Kunstwerk hat viel mit den Tautologien zu tun, die die ganze Mathematik ausmachen – Russell und Whitehead zeigen das für die Aussagenlogik in ihrem fundamentalen Buch „Principia Mathematica“, und Ludwig Wittgenstein scheitert in seiner Sprachphilosophie an der Beschreibung der Welt durch Sätze – zuletzt ist auch das Nichtwissenkönnen ein tautologisches System auf der Grundlage von (nicht hinterfragbaren) Axiomen – wie sämtliche Sätze irgendeiner Mathematik.
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Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.