Sie schauen ihn mit ihren unverbrauchten Blicken an. Fragend. Sitzen über ihren Aufgaben, grübeln und ein Hauch vermotzter Stimmung liegt in der Luft. Wenn er klar zurückblickt, schütteln sie ihre langen Haare, verstecken sich dahinter, Spiel. Das hat er auch getan, damals, als er noch Haare hatte, lange Haare, überhaupt welche. Als das Mädchen ihm gegenüber saß, ein Gedicht vorlas und sein Herz einen Sprung bekommen hatte, diese Stimme hatte ihn angerührt. Damals hatte er die Macht der Worte erkannt, die Möglichkeiten der Manipulierbarkeit durch den reinen Klang. Damals, als das Gesicht noch faltenfrei war, die Altersflecken nicht begonnen hatten sich auszubreiten, keine zerfurchte Landschaft, der jedes Lebensjahr voll angesehen werden konnte.
Jedes Mal, wenn sie eine Lösung gefunden haben, eine neue Zahlenkolonne gelöst ist, huscht ein fast verträumtes Lächeln über sein Gesicht. Das Wissen, dieser sonnenbeschienene Nachmittag ist ihnen durch ihn für die Freizeit gerettet. Die Schwachen äugeln auf die Aufgaben der Guten und finden Gefallen an den richtigen Lösungen, einige tuscheln mit ihren Nachbarn und diskutieren ernsthaft den richtigen Lösungsweg. Die Denker bestimmen das Vorankommen in dieser Klasse, anerkannt von den anderen, lassen sich letzte führen, zielgewiss. Hier gibt es offensichtlich nicht das gewohnte Herdenprinzip. Nicht die Schwachen bestimmen den Takt, sie werden mitgezogen und lassen sich bereitwillig mitnehmen.
Herr Nipp ist durch Zufall in diese Situation hinein geraten, er wollte einen alten Freund besuchen, der an dieser Lehranstalt arbeitet. Als er ganz unbedarft die Klassenzimmertür öffnete, stürmte ihm Besagter unerwartet entgegen, leicht verzerrt angestrengtes Gesicht. Fragte, ob der Ankommende sich kurz der Klasse erbarmen könnte. Im Blick eine gewisse Not, die auf körperliches Missgeschick hindeutete, die Beine in typisch bewegt verkrampfter X-Haltung.
Nun sitzt Herr Nipp seit 25 Minuten am Pult, lässt sie die Aufgaben erledigen, die angesagt sind, beobachtet die Schüler bei ihrer Tätigkeit und wartet auf seinen Freund. Doch der wird nicht kommen, wird das Ende der Stunde verstreichen lassen, wird ihn hängen lassen. Erst am nächsten Tag wird er sich melden, aus dem Krankenlager, Magendarminfekt.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421