Per Zufall hatte er bei youtube.de einen alten Namen wiedergefunden, der wieder die fast verschütteten Sehnsuchtswunden aufreißen sollte. Tatsächlich klickte er dieses Künstlers Album an und wurde von verschachtelter Musik umspült, die vor gut achtzehn Jahren alles aufgerüttelt hatte, alles infrage gestellt. Dieses geniale Werk, das sein musikalisches Weltbild nachhaltig prägen würde über Jahre. Wie oft hatte er damals diese CD gehört, bis zum Abwinken und dann wieder, eine gefährliche Droge, die in wenigen Sekundenbruchteilen abhängig machte. Ja, hören war wichtig gewesen. Mit Kopfhörern jedem Ton nachgehen, jede Nuance erschließend. Er hatte dabei gelesen, geschrieben und war darüber eingeschlafen, hatte tausende an Kilometern in seinem kleinen weißen Kastenwagen zurückgelegt. Hatte heftig gelacht und erschütternd geweint, weil diese Einsamkeit immer wieder tiefe Stiche in sein Herz gab.
Nur Sex war nie möglich gewesen, nicht bei dieser Musik. Und jetzt spielte dieser Tricky also wieder seine Klänge, ein Universum tat sich auf. Stimmenfragmente, Sirenenstimmen, seine zerbrochenen Wortgebrabbel und in strengem Sinn misslungenen Singversuche, die einfachen Gitarrenriffs, das schleppende Schlagzeug. Die atonalen Loops. Diese Platte mit dem Namen Maxinquaye konnte ihm physische Schmerzen bereiten wie Seelenlust und gehörte zum Genialsten, was Herr Nipp jemals zu Ohren gekommen war. Es gab solche Jahre, solche Töne, die einfach nur brutal in die Hirnwindungen kriechen, sich ganz tief verankern und niemals wieder loszulösen sind von der eigenen Geschichte. Für ihn vielleicht noch vergleichbar mit solch wahnwitzigen Alben wie Haus der Lüge, wie Ich-Maschine, wie from her to eternity, wie debut, wie dummy, wie nevermind, wie ok computer, wie isn´t anything, wie psychocandy, faith, closer, the sky´s gone out, try to be mensch . Herr Nipp hatte immer das Gefühl, wenn diese Musiken über ihn kamen, er würde völlig devot. An diesem Abend aber sorgte der gute alte Freund Tricky dafür, dass er doch nicht früh ins Bett gehen würde, dass er wieder einmal nach Hören der Klänge voller nachdenklicher Energie in die Nacht wandern würde, die feuchten Straßen zu riechen und das Leben zu erleben, wenn alle anderen schlafen. Zufrieden.
***
Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421