Der Bonner Bücherkarren

 

Vom barocken Poppelsdorfer Schloss führt die breite Allee vorbei an den wilhelminischen Häusern – in der Mitte die breite und fast einen Kilometer lange Wiese, sie war in der Zeit, als Bonn noch Hauptstadt war, Ort großer Demonstrationen, links und rechts daneben die Doppelwege für Radfahrer und Fußgänger mit den Doppelreihen der alten knorrigen Kastanien, außen die engen Kopfsteinpflasterstraßen für die Autos … Ich fahre abwärts, vorbei am eisernen Bücherschrank, bis zu den Gleisen der Bahn – ich steige vom Rad ab, gehe durch die kleine Unterführung, vorbei am kleinen  Blumenladen, Türkenimbiss und Schlüsseldienst unter den Gleisen. Nun steigt der Weg wieder leicht an, vor mir öffnet sich der Kaiserplatz, auf steigt der Strahl der Fontäne im kreisrunden Becken. Rechts von mir steht stumm die Kopie eines Denkmals: Wilhelm I. im Biergarten des Centro Hotels Residence. Ich überquere die Kaiserstraße und fahre den Platz hinauf, vorbei an der evangelischen Kreuzkirche, bis zum oberen Brunnen …

Der Bücherkarren hat schon geöffnet, Marion Hegner, die Antiquarin, sitzt an dem kleinen Sortiertisch in der Sonne und zeichnet neu hereingekommene Bücher aus. Gegenüber der Schmalseite der Uni, einst das kurfürstliche Schloss, rauschen die drei Fontänen des Brunnens, Autos und Linienbusse brummen vorbei, auf dem breiten Trottoir das Gewirr von Passanten vor den Geschäften – der Juwelier an der Ecke, die Gelateria Da Luigi, die Apotheke, der Parfumladen, der schmale Schlauch des Lotto- und Schreibwarengeschäfts, weiter unten der Bäcker in der Kaiserpassage … Im Eckhaus des Juweliers wohnte zeitweise während seines Studiums an der Bonner Friedrich-Wilhelm-Universität der italienische Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello – eine Tafel erinnert daran. Zwischen dem Trottoir und der Mittelwiese, von der aus man das Poppelsdorfer Schloss sieht, stehen Schatten spendende Bäume, dazwischen die Tische und Stühle der Bistros und Cafés. Die Sonne steht am späten Vormittag über dem Turm der Kreuzkirche.

Nichts zu suchen war mein Sinn, als ich in Bonns ältester und schönster Librairie roulante die Bücher durchsehe – bis mein Auge auf Hermann Hesses Geheimnisse. Letzte Erzählungen fällt. 3 €. Ich kaufe das Buch, dazu noch ein Reclam-Heft mit Jean Pauls „Schulmeisterlein Wutz“, 1 €, bestelle mir an einem sonnigen Außentisch der Gelateria einen Espresso macchiato und lese erst einige Seiten Jean Paul – mit großer Freude an der uneingeebneten Sprache –, und dann, weil ich neugierig bin, Hermann Hesses Erzählung „Ein Maulbronner Seminarist“ (1954) – ich bin begeistert. Die unprätentiösen Sätze des großen Meisters fallen in mein Herz wie ein Lebenselixier. Eine wunderbare Geschichte, wie Hesse auf die Erinnerungen eines Schülers trifft, der in seiner Schulbank saß, was für eine schöne Auflösung zum Schluss, auf die der Leser so ohne Weiteres nicht kommt – eher denkt er, HH mache sich hier einen Spaß, führt dem Leser ein selbstironisches Spiel vor, alles nur eine Erfindung, denkt er. Und dann ist es doch wahr – aber ich verrate den Schluss nicht. So ist es auch mit der poetischen Wahrheit: Die abstruseste Geschichte ist wahr, wenn sie richtig erzählt wird. So fängt der Tag gut an: eine Sonne von außen und eine von innen, das wärmt mich doppelt.

Marion Hegner, gebürtige Poppelsdorferin, betreibt seit 1989 den Bücherkarren auf dem Kaiserplatz (errichtet 1971). Zwar hatte sie zusammen mit ihrem Lebenspartner Joachim Pilz, der eine Buchhandelslehre absolviert hatte, ein kleines Antiquariat in Poppelsdorf aufgebaut, aber die Gelegenheit war günstig: die Betreiberin des Bücherkarrens, eine Kunsthistorikerin, suchte seit 1988 Nachfolger – Joachim fiel bald der geschlossene Bücherkarren auf dem Kaiserplatz auf, und für den Übernahmepreis von 35.000 DM übernahmen Hegner & Pilz das kleine, auf zwei Karren gebaute hölzerne Antiquariat und die Pacht für den Platz, der zur Universität gehört. Das junge Paar stürzte sich in die „autarke Selbstausbildung“ (so Hegner) und studierte einschlägige Bücher- und Antiquariatskataloge, sortierte rund 90 Prozent des übernommenen Inventars aus. Im Lauf der Jahre schufen sie eine erlesene Kollektion von zwei bis drei Tausend antiquarischen Büchern. Hinzu kommen noch Lagervorräte mit über drei Tausend Titeln, die im Internet angeboten werden. 

Mit Frau Hegner unterhalte ich mich über die Geschichte ihres kleinen, aber besonderen Antiquariats, über den täglichen Verkauf, die Kunden und ihre Interessen. Nicht nur ich spüre die Verzauberung des Kaiserplatzes durch die Bücher, diese besondere Atmosphäre wie in Berlin an der Humboldt-Universität Unter den Linden oder sogar in Paris – und wenn ich ein paar Schritte zurücktrete und nach rechts in die Straße am Neutor hinein schaue, sehe ich in nicht allzu weiter Entfernung die reich gegliederte Apsis des spätromanischen Münsters im Sonnenlicht glühen. Hinter mir die Universität, davor der tägliche Blumenstand, links von mir die Hofgartenwiese, das Kommen und Gehen der Studenten, und der Eingang zur U-Bahn …

Die 1959 geborene Antiquarin, nun schon über 30 Jahre im Geschäft, hatte in jungen Jahren zunächst anderes vor – sie studierte Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Düsseldorf. Sie wollte die kleinen Dinge der Welt musisch gestalten, sie strebte kein ausgeprägt bürgerliches, „geschientes“ Leben an und wollte möglichst unabhängig existieren. Zwar hatte sie eine Zeit lang im Bundesamt für Zivilschutz gejobbt, aber eine Festanstellung wollte sie nicht. Da kam das Zusammenleben mit Joachim gerade recht. Mit ihm verbrachte sie eine ganze Reihe von Jahren – bis er 2002 einen Gehirnschlag erlitt und vier Jahre später starb. Seither führt sie die mit ihm begonnene Sache allein fort.

Ihre tägliche Arbeit mag für den außenstehenden Betrachter leicht und – im Sommer unter blauem Himmel – sogar romantisch anmuten. Das ist auch gut so – für die magnetisch anziehende Atmosphäre um den Bücherkarren herum. Doch wollen 8 bis 10 Stunden Präsenz in guten und schlechten Verkaufszeiten oder bei oft kühlem, windigen und manchmal regnerischem Wetter durchgestanden werden, viele Monate lang ohne Urlaub. Frau Hegner liebt die Bücherwelt, aber von dieser Liebe allein kann sie nicht leben. Summa summarum kann sie vom Verkauf leben. Und sie ist einverstanden mit ihrem Leben, wie es nun einmal gekommen ist. Sie genießt die Freiheit und kann ihren Bücherkarren auch ein wenig gestalten – mit den Postern, mit der Ordnung der Bücher und deren Beschaffung.

Auch das Renovieren des Gehäuses verlangt Gestaltung. In den letzten Jahren war das völlig bemooste Dach reif für eine Sanierung, an einigen Ecken und Enden musste stabilisiert und abgedichtet werden (gegen Mäuse und Ratten). Im letzten Jahr ist das vielfältige Postkartenangebot stark erweitert worden – eine unternehmerisch interessante und erfolgreiche Innovation.

Ich setze mich beinahe jeden Tag, an dem die Sonne scheint, bei Luigi an einen der Tische unter den Rosskastanien, bestelle Kaffee, sortiere meine Post und die Schreibsachen. Ich will meine tägliche Postkarte an meine Hamburger Cousine schreiben. Ich habe heute die Kunstpostkarten vergessen. Im Bücherkarren gibt es Hunderte von Karten, ich laufe schnell die paar Schritte hinüber zu Frau Hegner und kaufe gleich drei. Ich schreibe ja bestimmt noch mehr. Vielleicht auch Briefe. Hier fühle ich mich wohl – von Frühling bis Herbst. Vor vier Jahren übersetzte ich hier Tag für Tag stundenlang Mao Zedongs Gedichte. Ich schlug jedes Zeichen nach und verglich meine Übersetzungen mit bisherigen Fassungen und Erläuterungen. Hier treffe ich mich mit Schriftstellerkollegen, mit Verwandten und Freunden, hier bespreche ich mit meiner Frau den Entwurf des weiteren Tages, Termine, Reisen, wir bestellen uns ein Eis (Zitrone mit Keks, Schwarze Schokolade) oder Fragolata. Beiläufig werde ich Zeuge von bühnenreifen Tischgesprächen so mancher Gäste. Besonders heiter wird es, wenn Luigi den Schülern Eis gibt, die in langen Schlangen am Schuljahresende anstehen.

Kürzlich fand die Antiquarin ein Buch mit Notizen zur Vorgeschichte des Bücherkarrens. Darin steht, dass 1948 Studenten in der Lennéstraße 57 (heute Lenné Snack) die Akademische Buchgemeinschaft eGmbH gründeten; die Mitglieder erhielten 10% Rückvergütung. Daraufhin sah der Bonner Buchhandel die Preisbindung gefährdet und rief im Handel und bei Grossisten zum Boykott auf. Bis 1950 wurde gestritten und verhandelt. Damit der Laden weiter existieren konnte, wurde der Anteil der antiquarischen Bücher stark erweitert. „Am 25. Juli 1950 wurde den Studenten von der Gewerbeaufsicht die Genehmigung zur Aufstellung eines fahrbaren Bücherverkaufsstandes am Kaiserplatz erteilt. … Der Antiquariatsbuchhandel und der Import lockten auch viele nichtstudentische Buchkäufer an. Hastenrath (Gründungsmitglied), der durch seine Verwandtschaft über zahlreiche Verbindungen verfügte, gelang es, interessante Ankäufe für das Antiquariat zu tätigen. So gelangten z. B. Teile der Bibliothek des berühmten Literaten und Politikers Harry Graf Kessler (1868-1937) in die Regale der Buchgemeinschaft. Auch der Romanist Ernst Robert Curtius stöberte gern im Laden der Studenten, wenn er von seiner Wohnung in der Joachimstraße ins Akademische Kunstmuseum ging … Curtius bot den Genossen auch überzählige Bücher aus seiner Bibliothek zum Kauf an, und es erregte einiges Aufsehen, wenn es vorkam, daß am Bücherkarren Schriften mit eigenhändiger Widmung von André Gide u. a. gefunden wurden. [Karl Gutzmer, Die Bonner Studentenbuchhandlung. In: Bonner Geschichtsblätter. Bd. 45/46]

Am 21. September 1999 berichtete der EXPRESS: „Montagmorgen gegen 3.30 Uhr: Helle Flammen loderten aus einem Bücherkiosk auf dem Kaiserplatz. Das Feuer fraß einen großen Teil der Holzbude mit etwa 3000 Büchern, sowie Tische und Stühle der Aus-senterrasse eines benachbarten Eiscafés auf. Passanten alarmierten die Bonner Berufsfeuerwehr. Nach 20 Minuten hatten sie den Brand unter Kontrolle. Schaden: rund 30 000 Mark. Die Kripo Bonn ermittelt. Sie kann Brandstiftung nicht ausschließen.“ – Zum Glück griff das Feuer nicht auf den benachbarten Bücherkarren über.  

Wenn der Bücherkarren geschlossen ist, sehen die Passanten an allen vier Seiten große Plakate, von der Antiquarin im letzten Jahr angebracht, auch um Graffiti zu überdecken.

Man liest da Sprüche und Texte über Bücher, die einem ans Herz gewachsen sind: „Wenn ein neues Buch erscheint, lies ein altes!“ (Samuel Rogers) oder „Ein Buch, das man liebt, darf man nicht leihen, sondern muß es besitzen.“ (Friedrich Nietzsche)

Oder dies:

Dies Büchlein hat seine Geschichte.

Ich kaufte es, als ich noch Schüler war, und nahm es auf die sturmreiche Reise zu den Färöern mit, wobei es ganz mit salzigem Seewasser getränkt wurde. Danach verdarb allmählich die ganze Blechklammerheftung, und ich war in den folgenden Jahren oft daran, es wegzuwerfen. Dann lernte ich buchbinden, und eines Tages kam auch dieses Büchlein an die Reihe. Die wellig gewordenen Blätter wurden heiß gebügelt, und am 17.5.57 war der neue Einband fertig. Vom alten Einband ist nur das Etikett geblieben.

Bleistiftzeichnung (1993)

Was mancher in sein Buch so hineinschreibt … hier ist es Peter Pan von James M. Barrie:

„Lieber Hans, ein kleines Abschiedsgeschenk. (Es sollte eigentlich Dein Geburtstagsgeschenk sein – sorry.) Ich hatte mir immer einen Peter Pan gewünscht – ein Wesen zwischen Mensch u. Traum, der immer fröhlich ist, der mich an die Hand nimmt und mir hilft, meine Schwierigkeiten zu überwinden. – Mir ist klar geworden, daß Peter Pan nur eine Märchenfigur ist. Alles Gute für die Zukunft, in Liebe Marianne

Mich interessiert, welche Bücher sich gut verkaufen lassen. Marion Hegners Antworten überraschen mich: Naturwissenschaften, auch Mathematik, Philosophie, Soziologie, Religionen … und sehr gut läuft die Belletristik der klassischen Moderne, also die Schüler- und Studentenliteratur, das sind Autoren wie Hermann Hesse, Camus, Sartre, Brecht, Tucholsky, Frisch und Dürrenmatt, Kafka … und der Kasten mit den gelben Reclam-Heftchen (in den Regalen im Innern des Karrens, wo die Antiquarin sich zeitweise gegen Lärm und Kälte schützt, liegt massenhaft Nachschub bereit).

Die Schmerzgrenze für die Käufer von jung und alt liegt generell bei 20 €. Auf der Seite des Karrens, wo die Passanten vorbeiströmen, stehen mehrere Boxen mit Billigbüchern neben dem Karren am Bürgersteig; darunter auch gute Literatur – die Schnäppchen aber findet man erst nach längerem Suchen an anderer Stelle. Auf der Seite zur Universität hin stehen Kunstbände, Bücher und Schriften zur Bonner Geschichte, Comics. Auf zwei Tischen liegen Neuerwerbungen und besondere Bücher und Raritäten. An den Wänden hängen Gitter mit Ansichtskarten … Jeden Morgen müssen die Tische, Kisten, Boxen und Gitter aus dem schattigen Innenraum rausgestellt werden – abends werden sie wieder verstaut. Das Geschäft ist in der Regel von März bis November morgens bis nachmittags geöffnet – wenn es regnet oder stürmt und schneit, ist der Karren abgeschlossen, dann wirkt der Kaiserplatz ganz trostlos. Dienstags und freitags oder im seltenen Fall von Krankheit und Urlaub wird die Chefin vertreten durch Joachim Keilbar, Ruheständler mit Geschichtsinteresse – und das seit 2008.

Im Deutschlandradio Kultur heißt es in einem Beitrag am 23.3.2005 unter dem Titel … und schöne Grüße aus Bonn. Der einstigen Bundeshauptstadt geht es besser als je zuvor: „Marion Hegner: Politik hat stark nachgelassen … Politik, Geschichte ist nicht mehr gefragt, fällt eigentlich weg. Das bemerkt sogar Marion Hegner, deren Name ist nicht so bekannt bei den Bonnern, wohl aber ihr Bücherkarren. Auf dem Holzwagen zwischen Hofgartenwiese und Kaiserpassage stapeln sich hunderte gebrauchte Bücher. Seit Jahrzehnten steht das kleine Antiquariat wie ein Denkmal am immer gleichen Platz. Verändert hat sich nur die Kundschaft.“

 

Bücherkarren auf dem Kaiserplatz, Bonn. Photo: Ulrich Bergmann

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.