Wenn eine Mülltonne voll ist, ist sie voll. Und wenn sie voll ist, geht nichts mehr rein.
Denkste, denkt sich so mancher, der eine solche Mülltonne befüllt. Die Mülltonne ist genau dann voll, wenn der jeweils Befüllende das sagt. Und voll ist eine Tonne ganz sicher nicht, wenn der Deckel nicht mehr geschlossen werden kann. Das wäre ja eine völlig spießige, erzkonservative, ja nachgerade reaktionäre Interpretation des Vollseins. Schließlich kann eine Tonne doch bis in Höhe der Breite eines geöffneten Deckels gestapelt werden. Mindestens. Falls der Befüllende einiges an statischem Geschick und dazu noch reichlich Routine mitbringt, dann lässt sich von ihm sicher auch seitlich einiges als Ausleger unterbringen. Wenn man nur lange genug übt, kann man es da übrigens zu einer wahren Meisterschaft bringen.
Voll soll eine Mülltonne erst sein, wenn selbst die letzte architektonische Finte bei der Befüllung vollends ausgereizt ist? Mitnichten! Wer da schon die Flinte ins Korn wirft, entpuppt sich letztlich nur als läppischer Warmduscher, Parkhausblinker, Müllwiedermitinshausbringer. Schließlich erschließt der Winkel zwischen dem geöffneten Deckel und, zum Beispiel, einer Hauswand dem Befüllenden einen geradezu perfekten Raum zum stabilen Stapeln. Ideal geeignet für Styropor. Nur so als kleiner Tipp.
Voll ist die Mülltonne definitiv auch nicht, wenn der Befüllende eine Mülltüte in der Hand hat. Denn Mülltüten haben nun mal die ganz wundersame, ihnen offenbar innewohnende Eigenschaft, dass, sollten sie sich an die Mülltonne schmiegen, sie schon in ihr stecken. Auch wenn das einige völlig humorlose Müllwerker manchmal ganz anders sehen. Und sie dann dumm `rum stehen lassen. Aber zum Glück gibt es da ja putzig-pelzige Untermieter, die sich an ihrem Inhalt gütlich tun. Oder den Wind. Oder blöde Mitmieter, die volle Mülltüten in geleerte Mülltonnen stecken. Albern so was, das kann schließlich jedes Kind.
Überhaupt: Was heißt schon „voll“? Ist eine Mülltonne voll, wenn Kartons nicht schnöde gefaltet, sondern fein säuberlich als ganzes in eine Mülltonne verfrachtet werden? Nein, dann ist die Tonne nicht voll. Auch wenn nichts mehr rein passt. Schließlich ist ja kaum was drin. Also ist diese Tonne dann eigentlich leer. Oder nicht?
Das Allerfaszinierendste an Mülltonnen ist übrigens ihr integrierter Autopilot. Nach erfolgter Entleerung durch die Müllwerker setzen sie sich, ganz offensichtlich selbsttätig, in Bewegung und rollen wie von Geisterhand geführt wieder an ihren jeweiligen Befüllungsort zurück. Oder haben Sie jemals jemanden gesehen, der da Hand angelegt hat? Sehen Sie.
Sollten Sie diese kleine Parabel recht putzig finden, so machen Sie sich doch einfach mal den Spaß und stellen sich folgende Frage:
Wie verhalten sich wohl Menschen, die mit einer solchen Denkstruktur ausgestattet sind, in vergleichbaren Situationen? Die Frage ist deshalb nicht ganz uninteressant, weil Strukturen nun mal die dumme Angewohnheit haben, nüchterne Blaupausen zu sein, die es nicht die Bohne interessiert, mit welchem Inhalt sie befüllt werden. Um hier mal im Bild zu bleiben. Solche Strukturen sind grundlegende Muster, die in der Regel spontan, unreflektiert und intuitiv, ungeachtet sonstiger Bewertungen, Beurteilungen und Einstellungen, zum Einsatz kommen.
Es steht nun zu befürchten, dass sich diese Menschen in analogen Situationen analog verhalten werden. Und sich dabei dem Hinweis gänzlich unzugänglich erweisen, dass ihr Verhalten vielleicht nicht so ganz den Voraussetzungen eines gedeihlichen sozialen Miteinanders entspricht.
Der gute Herr Kant hat für diese Fälle dereinst ein für alle vernunftbegabte Wesen gültiges ethisches Gebot definiert, mit dem es jedem Menschen eigentlich recht einfach möglich sein sollte zu überprüfen, ob das, was er da gerade tut, nicht nur seiner eigenen selbstherrlichen Junkerattitüde entspricht, sondern, nach dem grundlegenden Prinzip der Reziprozität, das Recht aller betroffenen Menschen berücksichtigt. Kurz und knapp hat Herr K. diese Geschichte weiland als Kategorischen Imperativ betitelt:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Wenn das aber schon nicht im Kleinen, Alltäglichen, Marginalen klappt – was lässt sich dann bei den großen Dingen realistischer Weise erwarten?
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2008
Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.