Platten

 

Zwischen all den angefangenen und abgebrochenen Stücken vor Ulrich Johannes Müllers Atelier, den frisch angelieferten Steinen und überwucherten Resten einer Idee fand sich auch die Studienplatte eines ehemaligen Schülers.

„Sehr talentiert. Hat er hier stehen lassen und nie abgeholt.“

Dieser hatte das Hauen von Schrift lernen sollen, exakt und im richtigen Rhythmus die Buchstaben zu setzen, so dass es zu einem harmonischen Bild wird, ist eine Kunst für sich, manchmal frage ich mich ernsthaft, wer darin besser ist, die Typographen, die Steinmetze oder die bildhauernden Künstler. Glücklicherweise kommt man zu keinem Ergebnis und das ist wahrscheinlich auch gut so. Er hatte ein kurzes Fragment von Nietsche gewählt: Flamme bin ich sicherlich.

Die Assoziationen dieser vier Wörter reißen Herrn Nipp in eine ferne Zeit, der man wohl nie entkommen kann, wenn man sie ge- lebt hat. Anfang der neunziger Jahre brachte eine Band namens Blumfeld zwei gute Alben heraus, die bei ihm rauf und runter liefen. Jede Zeile wurde mitgesungen, gesprochen. Diese Ichma- schine gehörte wie selbstverständlich zu seinem Leben, alles war zitierfähig, all die intelligenten Ungereimtheiten, die ein Gefühl dieser Zeit in Worte fassten. Der Sänger und Texter Jochen Diestelmeyer plünderte hier frech die Literatur und setzte die Teile zu neuen Sinnzusammenhängen zusammen. Alles war anwendbar, allerdings nie mit heiligem Ernst, eher ironisch gebrochener Distanz:

„Zurück zu den Häusern, in den Garten, in dem die Apfelbäume warten.“ oder : „Verwandtschaft, die Tonnen wiegt, für den der unten liegt.“ oder: „Zölibatäre Linguisten, Lehrkörper und Theisten haben sich hoffentlich tot gelacht und nicht so wie sonst ins Fäustchen gemacht.“

Blumfeld: l ́etat et moi (Mein Vorgehen in vier bis fünf Sätzen) steht in einer frechen Tradition des gewitzt zugebenden Zitateklauens und schnappt sich gleich eine ganze Passage von Nietsche:

Ja, ich weiß, woher ich stamme, ungesättigt gleich der Flamme glühe und verzehr ́ ich mich. Licht wird alles was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse. Flamme bin ich sicherlich

Heute findet sich solcherart Spaß am Zitatesteinbruch allenfalls am guttenbergischen oder sonstigen Politikervorgehen, wenn es um Doktorarbeiten geht, sofort im Internet und dann wird es ernst, da- mals musste man noch Bücher lesen.

Dies war eine Stimme gewesen, nicht Jochens nur, auch Herr Nipps, Abgesang auf die verbrieft verkopfte Kultur, auf den ersten Blick aber nur:

„Mach doch mal einer den Kulturkack aus, ach geht ja nicht, lass bloß an, bin ja selber drin.“

Neue Metaphern für eine anbrechende neue Zeit zu schaffen kann vielleicht als Verdienst gesehen werden. Leider hatte sich der Kopf der Band wohl irgendwann schwerwiegend verliebt und mit der dritten Platte eine neue Nische in der Schlagerecke gefunden. Ja, er hatte sich auch die restlichen Platten noch besorgt, weil es so sein musste, musste aber immer wieder feststellen, dass nur die ersten beiden wirklich gut sind. Das berühmte Scheitern am dritten Album. Immerhin hat die „Kante“ einiges musikalisch fortgeführt.

Die Marmorplatte allerdings, die liegt jetzt im sintflutartigen Sommergewitterregen des Sauerlandes – in seinem Garten. „Danke Uli.“

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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