Traditionalisten

 

Ein bleierner Schlaf hatte auf ihm gelegen, Herr Nipp musste Stunden lang in jenen Traumgefilden verbracht haben, jenen, die wohl irgendwie bekannt scheinen oder zumindest erahnt. Von schönen Träumen und etwas Glück eingehüllt. Er hatte ganz früh die Reißleine gezogen, als seine Augen nicht mehr wollten. Nach dem Aufstehen hatte er einen Text geschrieben:

Vor den Fenstern
bodenlang Gardinen
sie wehen leicht im Wind
ich seh ́ Figuren Menschen Bäume auch in ihnen und manchmal gern ein Kind
der Boden glatt
aus rötlichbraunen Fliesen
sie ruhen wohlig kühl im Raum
bei Nacht im Traum geborene Riesen
ich bin zu müde seh ́ sie kaum

…und festgestellt, dass dies doch ein wenig zu romantisch für ihn war.

Bei einem völlig deplatzierten Vortrag am vorigen Tag zur Preis- verleihung der Leuchte des Jahres hatte er meist mit Mühe und Not die Augen offen gehalten, sich gefragt, wer diese Menschen denn wohl eingeladen hatte. Die, nicht nur völlig langweilig, sondern auch an den Interessen der Zuhörer vorbei, davon gesprochen hatten, dass man die eigene Firma doch möglich schnell verkaufen solle, um den maximalen Profit daraus zu schlagen. Völlig ver- kennend, dass vor ihnen Leute saßen, die entweder eine Firma in Familienhand besaßen, damit teilweise Bindung über Gene- rationen, die den Standort im Auge hatten und die Beziehung zu jedem guten Mitarbeiter, oder aber solche, die in diesen Firmen arbeiteten und schon deshalb kein Interesse am Verkauf hatten.

Natürlich ging es in diesem Vortrag nur darum, neue Kunden zu gewinnen, denn die Vorträger arbeiteten bei einer M+A- Agentur. „Wir verkaufen für Sie, was ihr Vater aufgebaut hat…“ An anderer Stelle hieß es: „dies soll keine Eigenwerbung sein…“ Der Applaus blieb mäßig, musste sogar von der Moderatorin des Abends ein wenig eingefordert werden.

Glücklicherweise hatte sich ein weiterer Redner gefunden, der ganz spontan, nicht so langatmig, sondern präzise sein Anliegen darstellte, dafür mit Witz und einem gewissen Charme diese Strate- gie der Referenten ins Leere laufen ließ, indem er zeigte, was die Interessen der hiesigen Unternehmer seien: Traditionen in eine neue Herausforderung zu führen, das Gute, die Erfahrung nutzen für sinnvollen Wandel, Verantwortung für eine Region und die Menschen dort übernehmen und gemeinsam mit den Menschen zu wachsen und Wohlstand zu sichern. Aus japanischen Verteidigungstechniken hatte er wohl etwas gelernt: nimm die Energie des Angriffs auf und nutze diese gegen die Angreifer. Anders gesagt, waren die beiden Vorredner mit Vorschlaghämmern gegen eine Wand angetreten, die unerwartet nicht aus Backstein, sondern aus Gummi war…

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421