Auswahl

 

Ich verlasse mich auf die

Ankunftszeiten gehorche den

Öffnungs- und Schlusszeiten

obliege den Pausenzeiten

ergebe mich den Auszeiten

hetze Freizeiten nach.

 

Ich verlasse mich auf Zahlen

glaube an bezifferte Statistiken

deute die Auswertung poche auf

Primzahlen gratwandere auf Einsen

und Nullen rechne Soll und Haben

aneinander schreibe die Addition

zuoberst verkrafte manch’ Subtraktion nicht

starre gebannt auf die Zahlenreihe

1971 mein Geburtsjahr

und gebe der Zahl vor dem Komma

immer mehr Gewicht.

 

Ich verlasse mich auf Sätze schöne

wie ich-liebe-Dich wiederhole ich entzückt und

ich-liebe-mich entrückt erwarte ein Ja oder Nein

höre genauer hin bei Vielleicht und mache mir

einen Reim warte auf Bestätigungen schwarz

auf weiss sammle Unterschriften wertschätze

die Handschrift wie andere Goldmünzen.

Ich verlasse mich auf die Gestern halte das

einst verfasste Werk in Ehren stelle eine alte

Brauchtumsmaske auf Museumssockel anstatt

zu verreisen verziehe automatisch mein Gesicht

beim Betrachten alter Photos besuche ehrfürchtig

subventionierte Archive erfreue mich an der Frische

einer Patina im Heute.

 

Ich verlasse mich auf Zwischentöne Nebengeräusche

oder Schreie gehe Tonleitern auf und ab lege mich

in die üppigen Akkorde verschlafe im Moll und erwache

im Dur erkenne die Klagen und Lieder und vernehme

trotz Stöpsel im Ohr der Menschen kaum merkliche Seufzer.

Ich verlasse mich auf die Gedankenstriche die Copyright

Zeichen ich höre die Hebung im Komma am Anfang des

Satzes erwarte den Punkt wie das Amen in Kirchen lebe das

Ausrufezeichen innerhalb der Geliebten erfreu mich wenn

Klammern aufgehen lass mich stupsen mit dem Enter stehe

solidarisch und unterwürfig auf Zehenspitzen bei der

Begegnung einer Titelschrift in Kapitallettern.

Ich verlass mich auf das Nichts wie auf das Morgen auf

die Leere wie die Fülle auf das Werimmer Woimmer

Wannimmer Wasimmer und auf die leere Leinwand verlass

ich mich wie auf die unsichtbare Regung des blanken Papiers.

Und auf diese Wörter.

 

 

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Ich streue Puderzucker, Gedichte von Joanna Lisiak, Hardcover, und zudem mit einer signierten Originalskizze von Grete Bellamy versehen. 176 Seiten, 2008

Gedichte kommen im Gegensatz zu Brot, Milch etc. unverlangt auf den Tisch, aber … So die Thematik des Eingangstextes. Darauf unter dem Titel „Tagebuch“ „Mit Hoffnung geduscht / Wünsche gegessen. / Einsichten verdaut./ Erlebnisse ausgefahren./ … „in bunten Gedanken eingeschlafen – Notate für Autorin und Leser, Leserinnen. Und in „Vorsätze zum Neuen Jahr“ tönt es wie aus einem Programm: „Täglich eine Hand / voll Kunst berühren.“ Aber auch das Beobachten im Alltag, der Hund, der Nachbar, der morgens in den Wald rennt … „In der edelstählernen Küche / hat kalter Kaffee aus / Silber-Bauhauskanne / wunderbar geschmeckt.“ Porträts, Aufrufe: „sich vertrau-ensvoll in eine Lücke legen.“ „Der Atem geht leichter in / imaginären Dimensionen“. Dann und wann neckische Zeilen in luftige Worte kleiden, z.B. über den Kleider-schrank auf dem Estrich, über das Bett, das „zu beträumen ist“. Dort: „Ein bunter Haufen / Mädchenkleidchen ziert / windstill die Wäscheblume.“ Lebensfrohgemut gleiten die Lesenden über ihre Zeilen, in denen zur Belustigung auch an gewissen Stellen etwas geflunkert wird: „ums Haus herumgeflattert.“ Auch Fragen: „Freuen sich Sandkörner auf die / Reinkarnation Muranogefäss?“ Personifizierungen: „Der Daumen träumt.“ In der Nähe zum Märchenhaften, Texte in Richtung von längeren Erzählgedichten. Manchmal erscheinen bereits ihre Titel wie Gedichte: „Kleine Abendweisheiten“, und selbstverständlich fehlt eine gewisse Dosis Gesellschaftskritik auch nicht. Der Band ein grosses Kompendium an Themen, in verschiedenen Richtungen, mit der gleichen Schreibart, der von Joanna Lisiak.

August Guido Holstein

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. Holger Benkel denkt in einem Rezensionsessay über den sinn der wendungen nach. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.