Der Bonner Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee
Zwischen Schloss und Schloss erstreckt sich in der alten Bundeshauptstadt der Kaiserplatz und die breite Doppelallee, die nach Poppelsdorf führt. In der Residenz des aus Köln vertriebenen Kurfürsten mitten in der Stadt befindet sich die Rheinische Universität, benannt nach dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. In dem kleineren Poppelsdorfer Jagdschloss residiert die Mineralogie der Uni. Gleich zu Beginn der sanft ansteigenden Kastaniendoppelallee steht der metallene Bücherkasten, einer von acht oder neun in ganz Bonn. Der Poppelsdorfer „Offene Bücherschrank“ war 2003 das erste Projekt der kurz zuvor gegründeten Bürgerstiftung, die Idee stammt von Trixi Royeck, die damals Innenarchitektur an der Fachhochschule in Mainz studierte. Die rostige Seitenwand glimmt rot in der Sonne – als hätte Serra den Kasten zwischen den knorrigen Kastanienstämmen aufgestellt.
Wanderer, Radfahrer, Spaziergänger, kommst du an diesem Kasten vorbei, siehst du hinter den großen Glastüren die vielen Bücher, jeden Tag andere, und bleibst stehen und wühlst dich mit den Augen durch die Titel. Da steht alles – vom ungelesenen Kunstbuch mit Kupfertiefdrucktafeln bis hin zu zerlesenen Landser-Heftchen und Broschüren zur religiösen Erbauung, viele Bücher der katholischen Theologie, es gibt alles – vom Krimi bis zum Warenhauskatalog, vor allem Romane, Romane, Romane.
Heute ist wieder ein Lehrer in den letzten Ruhestand eingetreten: Die gelben Reclam-Heftchen mit Anmerkungen, auch die grünen und blauen, Königs Erläuterungen, Goethes Faust, Schillers Räuber, expressionistische Gedichte, Dürrenmatts Physiker … Gestern standen lauter Dumont-Reiseführer, Opern- und Theater-Programmhefte im Fach – da ist einer alt geworden und trennt sich von der Überfülle, vielleicht ist er auch umgezogen. Ein andermal sind es alte Schwarten in Frakturschrift – Theodor Fontane, Thomas Mann, Franz Werfel … Oder medizinische und juristische Bücher, die längst ausgedient haben, Grammatiken, Wörterbücher, mittelhochdeutsche Texte, Lehrbücher der Chemie, Botanik; Atlanten, Reisebücher, Bildbände, Gebetbücher, Fachzeitschriften aller Richtungen, Bibeln, Abenteuerbücher, Micky-Maus, Diät-Broschüren, die FREUNDIN, die Gesammelten Werke von Bert Brecht, letzte Woche standen dort alle Bände von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die Gesamtausgabe von Bertolt Brecht, das dtv-Lexikon, ein Dutzend Krimis von Simenon. Manchmal stehen alte Schallplatten zwischen den Büchern, Musikkassetten und CDs. Viele radieren ihre Namen in den Büchern weg oder reißen gar die Seite aus dem Buch heraus, auf der ihr Name oder eine Widmung steht. Andere lassen alles, wie es ist. Ich stoße auf Liebeserklärungen und gutgemeinte Ratschläge fürs Leben, auf Dank und Anerkennung. Und auf Anmerkungen im Buch, mit Blei geschriebene und mit schwarzer Tinte, in deutscher und lateinischer Schrift, auf Eselsohren und Zeichnungen – besonders bei Schülerlektüren gibt es originelle und weit vom Inhalt abschweifende Kritzeleien und Titelumwidmungen …
Hier im Campus-Bereich laufen viele Studenten vorbei, die ‚Erstis’ haben es eilig und suchen das Gespräch untereinander, die bleiben hier kaum stehen. Die etwas älteren treiben weiter oben ihren Schabernack mit Kekulé, der in Übermenschengröße auf dem Sockel gegenüber dem gelben barocken Jagdschloss steht und immer wieder etwas anderes in Händen hält – einen Regenschirm, ein Demonstrationsplakat („No war, no Ware“), einen Büstenhalter, eine Bierflasche, eine Plastiktasche von Aldi …
Ich habe schon viele Bücher hier gefunden, weiterverschenkt und gelesen. Und nachgedacht über die Spender und ihre Motive, ihre Bücher zu verschenken. Romananfänge gingen mir schon durch den Kopf … Heute finde ich ein dunkelblaues Suhrkamp-Taschenbuch (für damals 3 DM), das mich sofort anzieht: Günter Eich: Abgelegene Gehöfte.
Es sind die 1948 erschienenen Gedichte, in der edition suhrkamp 1968 wieder aufgelegt, als Eich schon 61 Jahre alt war und sich von vielen dieser Gedichte innerlich getrennt hatte, weil sie ihm nicht reif genug erschienen. Viele reimen sich. In dieser Sammlung finde ich das berühmte Gedicht „inventur“.
Die Gedichte atmen die Luft einer anderen Zeit. Ob die Verse jüngeren Lesern zu Herzen gehen und im Verstand aufleuchten oder ob sie matt abprallen und wieder versinken, das weiß ich nicht:
… Der Nachtwind weht über die Trümmer hin wie über die Wachenden,
weht aus Herz und Gedanken allen die Wärme. Es rauscht
matter das Blut unter seinem Anhauch, und es vernimmt
die leisen Schritte des Todes, wer in die Mitternacht lauscht.
(Der Nachtwind weht, S. 45)
Einige Gedichte in diesem Band befassen sich mit dem Kriegsgefangenenlager in der Rheinaue bei Remagen, wo Regen und Hochwasser die Erde in einen Morast verwandelten, so dass Seuchen ausbrachen und viele starben. Das Büchlein enthält noch nicht die kritischen Gedichte der 60er Jahre, als Günter Eich dazu aufforderte, den Sand ins Getriebe der neuen viel subtileren Staats- und Unterdrückungsmechanismen zu blasen, aber das widerständige Bewusstsein wird in den frühen Versen vorbereitet. Nie wieder soll Deutschland im Sumpf der Gefangenschaft des Geistes enden.
Am Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee erlebt der Passant, wenn er stehen bleibt, Werden und Vergehen der Moden. Die Bücher sind hier schnell vergriffen. Nachschub kommt schnell. Hier waltet eine große, nützliche Fluktuation gedruckten Geistes. So manch einer nimmt ein Buch mit nach Hause, liest oder blättert es durch und stellt es dann wieder in den Bücherschrank. Andere kommen zum Lesen an den Kasten, die Crêpe vom Türken an der kleinen Unterführung in der einen Hand, das Buch in der anderen.
Auf der weißen Bank neben dem Bücherkasten sitzt den ganzen Sommer lang und bis in den kühlen Herbst hinein (dann in warme Decken gewickelt) Tag für Tag von morgens bis abends ein vollbärtiger dicker Stadtstreicher – wie schon im letzten Jahr ist er ganz Zubehör des Ensembles von Kastanienlaub, Zeitungspapiermüll auf sandiger Erde und den auf beiden Seiten des Kastens Bücher heraussuchenden Schülern, Studenten, Müttern, Rentnern und Kindern. Einer hält immer die Glastür auf, die anderen greifen in die Bücher hinein und reden nicht selten über das, was sie dort finden und was sie gelesen haben, über die Politik und Gott und die Welt. Nicht selten treibt so ein Gespräch weit ab und zurück in tiefe Vergangenheiten, Kindheitserinnerungen werden laut, so manch einer erzählt sein ganzes Leben.
Und dann und wann fährt ein Mann mittleren bis höheren Alters mit dem Fahrrad an den Kasten, am Lenker hängen links und rechts zwei große Taschen mit Büchern, die Köpfe der Suchenden drehen sich hin zu ihm, dann öffnet sich ihm eine Gasse, er stellt die Bücher ins edel oxydierende Stahlregal, dann schweigen alle. Es ist kaum Platz, die Bücher stehen dicht gedrängt. Der Mann legt seine Bücher über die andern, stopft den Inhalt der zweiten Tasche mühsam in die enge Bücherreihe und stapelt den Rest draußen in Wind und Wetter auf grauen Pflastersteinen an der rostigen Wand.
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Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421