Kritik an der literarischen Alternative

Was sich als zwischen 1967 und 1977 als Gegenkultur bezeichnet, fand bereits im 19. Jahrhundert auf dem Monte Verità, dem Zauberberg der nonkonformistischen Kultur statt.

„Ach, der“, sagt Lenz, „mein Gott, der H., der ist ein großer Dichter, aber er ist doch irgendwo in den Siebzigern steckengeblieben!“

Ups. Das ist heftig. H. und in den Siebzigern steckengeblieben? In den Siebzigern, in denen Biby Wintjes‘ NONKONFORMISTISCHES LITERARISCHES INFORMATIONSZENTRUM blühte, in denen sich alle mit Du plus Vornamen anredeten, in denen man diskutierte und demonstrierte (Anti-Vietnam oder Anti-RAF), sich solidarisierte und engagierte, in denen die Wörter „Alternative“ und „Gegenöffentlichkeit“ geprägt wurden, womit ein Ort gemeint war, an dem die „Humanisierung der Kommunikation“ erreicht werden sollte? Das sind doch alles hehre Ziele! Was soll denn das heißen: „in den Siebzigern steckengeblieben“? Wenn wir uns an die Humanisierung der Kommunikation halten, wenn der tödliche Büro- und Amtssprech abgeschafft wird zum Beispiel und sich Politiker nicht mehr hinter Seifensprechblasen verschanzen könnten – dann wäre „in den Siebzigern steckengeblieben“ kein Vorwurf, sondern eine Auszeichnung.

Wenn.

Für manche ist es auch eine Auszeichnung. Lenz aber meint es nicht als Auszeichnung, sondern als Kritik. Und Lenz ist kein neuschlauer Kommerzhase, im Gegenteil – Lenz ist älter als H., Lenz gehörte 1968 schon zum alten Eisen, Lenz hat damals schon das durchschaut, was sich dann zur „literarischen Gegenöffentlichkeit“ herausmausern sollte. Lenz wird zwar von R., einem Ex-Dichtungs-Revoluzzer, der jetzt rotweinsüffelnd in seiner Butze hockt und donnernd gegen die „Literaturmafia“ wettert, gerne verächtlich als „harmloser Spinner“ tituliert – aber ein harmloser Spinner ist mir lieber als ein neurotischer Choleriker mit Hang zum Machoismus. Zumal Lenz vor allem eins verstanden hat: die Progression. Er bleibt nicht stehen, er ist nie stehengeblieben. Er ist über siebzig, aber er ist agil, geistig kregel und offen. Und er erzählt einem nie dieselbe Geschichte zweimal. R.s Geschichten hingegen kennt man nach dem ersten Besuch bei ihm schon alle auswendig, und nie ändern sie sich, und nie kommt eine neue hinzu. Und die Protagonisten sind immer dieselben: auf der einen Seite steht die böse, oberflächliche, dumme, gemeine, kommerz- und konsenssüchtige Literaturmafia – auf der anderen Seite stehen R. und seine Spießgesellen, aufrecht, kompromißlos, kritisch, nicht unterzukriegen. Blabla. Wenn man sich R.s jetzige Aktionismen ansieht – auf der einen Seite seine galletriefenden Sonette und Briefe gegen die angeblich böse Front, auf der anderen Seite seine arschkriecherischen Schriebe, wenn er den Hauch einer Chance wittert, mit seiner Soße von einem Radiofritzen interviewt zu werden -, kann man über diese Anekdoten aus dem letzten preußischen Kriege nur grinsen.

Was hat das nun mit H. und der Siebziger-Jahre-Ideologie zu tun, in der H. laut Lenz angeblich steckengeblieben ist? Viel – denn R.s Regression hat ebenfalls mit dieser Ideologie zu tun, wenn auch er wohl schon Mitte der Sechziger stehengeblieben ist.

Es geht hier um die allseits bekannte Kluft zwischen Außen und Innen, Hollywood und Faust, Stephen King und James Joyce, Form und Inhalt, Karriere und „Selbstverwirklichung“ (noch so ein 70er-Jahre-Wort, das man jetzt in Anführungszeichen setzen muß), Geld und Qualität. Die Fragen lauten: kann man mit guter, kritischer Schreibe reich werden? Wenn ja, warum sind die guten, kritischen Schreiber alle arm? Wenn nein, wozu schreibt man dann?
Ich höre schon das Aufjaulen und das schlagende Geräusch, das entsteht, als die Siebziger-Jahre-Fraktionäre und ihre diversen Pseudo-Adjutanten und sonstigen Rattenschwänze sich auf die Stirn klatschen. Was sind denn das für Fragen?! Ja, Gudix, was ist denn mit dir los?! WEISST du das denn nicht?!

Klar, ICH weiß es – ich kann die Fragen für mich beantworten. Aber ich bin auch nicht in den Siebzigern steckengeblieben, weil ich in den Siebzigern ja erst geboren wurde. Und deshalb möchte ich diese Fragen jetzt mal beantwortet haben, RADIKAL, d.h. von der Wurzel her. Zurück zum Anfang der Geschichte! Wovon sprechen wir also hier?

Von Antikapitalismus, Verwertungs- und Vermarktungslogik, Globalisierungskritik, Kommerzkritik, Dialektik. Wir sprechen von Hegel, Marx, Marcuse, Adorno, Collmer, von Robert Pirsigs ZEN UND DIE KUNST EIN MOTORRAD ZU WARTEN; Shakespeares KING LEAR, Rimbauds SAISON EN ENFER, Sartres L’ÊTRE ET LE NÉANT, von Ploog, Burroughs und diversen anderen, die ich aber hier nicht aufzählen muß – ich denke, Sie wissen, welche Route ich einschlagen will; wer nicht, soll die angeführten Bände, Philosophen und Schriftsteller studieren und auf die Jetztzeit beziehen beziehungsweise auf die Siebziger.

Ad radicem. Es war einmal ein Häuflein Gerechter, das trachtete gegenzustinken gegen die vorherrschende Meinungsgleichschaltung in den medialen Großkonzernen wie Springer, SPIEGEL, Rowohlt, Fischer und gründete zu diesem Zweck eigene Zeitungen, Zeitschriften, Verlage. Das war Ende der Sechziger. Dann passierte folgendes: die Großverlage und -konzerne merkten, daß sie auf diese Weise bald nur noch als Seniorenvereine dastehen würden und holten einige der jungen Wilden in ihr Boot, zähmten sie, stylten mit ihnen ihr eigenes Image um und hatten auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: erstens die literarische Revolution verhindert und zweitens ihre eigene Vergreisung. So lebten die Großverlage weiter heiter und froh, und ihr seliges Ende ist nicht abzusehen, wenn wir, das Häuflein Gerechter, uns nicht endlich unserer Sendung besinnen und die literarische Revolution stattfinden lassen! Wofür sind wir denn damals angetreten?!

So weit, so klischeehaft. „Ja, fällt euch denn nichts besseres ein als diese alten Geschichten?“ sagt Lenz. Recht hat er. Denn mehr als Geschichten sind es nicht. Ich habe sie schon so oft erzählt, in zig Essays und Pamphleten wiedergekäut, skandiert, monologisiert. ICH bin vor zehn Jahren für die Entphrasung und Dekonditionierung der Sprache angetreten, und insofern ist nun festzuhalten, daß das ganze Märchen von der Literaturmafia und der heldenhaften „Alternative“ inzwischen von vorne bis hinten aus Phrasen besteht. Tote Hülsen, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Eingerostete Seifenblasen.

Wo sind sie denn jetzt, die tapferen Ritter der Gegenöffentlichkeit? Es gibt derer welche in mehreren Generationen. Es gibt z.B. R., Jahrgang 1937, der jetzt wie gesagt in seinem Häuschen im Norden Berlins sitzt, schimpft und sich in Fusel tröstet. Dann gibt es B., Jahrgang 1947, genauso alt wie Biby Wintjes, der lange Jahre ein „Alternativheft“ herausgab, aber jetzt nur noch verächtlich vom „Sumpf“ spricht und mir riet: „Es gibt nur zwei Arten unterzugehen: in Ehren – oder ohne.“ Und das Engagement im „Sumpf“ der „Alternative“, besser gesagt das Dümpeln in diesem Sumpf, ist eher letztere Art… Dann gibt es E., Jahrgang 1952, der einen festen Beruf hat, Familie, Kinder – und der die ganze „Szene“ für einen Knalltütenverein hält und seit einem üblen Befindlichkeitshickhack vor einigen Jahren überhaupt nichts mehr sagt. Damals verstand ich das nicht, heute zolle ich ihm Respekt – er hatte den Befindlichkeitskindergarten der „Alternative“ richtig eingeschätzt. Und dann ist da H., Jahrgang 1957, der nach wie vor ohne Heizung, Wanne und Computer in einer Butze in Prenzlauer Berg von der Stütze lebt und Solidarität zwischen Kaffeefiltern, Mausedreck und betipptem Papier praktiziert. Und dann gibt es noch all jene, die sich Anfang der 90er Jahre zum Wiederaufwärmen der alten Literaturrevolution berufen fühlten und das Social Beat nannten; die sind im allgemeinen in den Sechzigern geboren, und viele unter ihnen sind heute gescheiterte Existenzen, alkohol- und drogengeschädigt, hartz-IV-gezeichnet und pleite. Einige von ihnen haben „es“ geschafft und sind heute Stars, veröffentlichen dicke Bücher mit großer Auflage in berühmten Verlagen – und werden von anderen genau dafür gehaßt und des „Verrats“ bezichtigt. Einige der ehemaligen SB-Fraktionäre produzieren nach wie vor dilettantische Käsblättle mit seltsamen, schlecht geschriebenen Stories darin, fotokopiert und zusammengezwickt mit Zwecken, leben von der Stütze und rühmen sich, „unabhängig“ geblieben zu sein und ihr „Genie“ nicht an die Großverlage „verheizt“ zu haben.

Derlei dürftige Bemäntelung der eigenen Talentlosigkeit erregt in mir das große Kotzen. Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter von Wilhelm Busch, war kein literarischer Revolutionär, sondern eine Farce! Das weiß eigentlich jedes Kind – und trotzdem gebärden sich manche Pseudo-Dichter wie Bählamm, bauen sich theatralisch vor einem auf, reden von ihren „Werken“ und davon, daß sie es aufgegeben hätten, für diese „Werke“ Verlage zu suchen, weil die „Werke“ für die Verlage wohl zu komplex seien, weil die Verlage ohnehin nichts verstünden, denn bekanntlich gehen sie ja nur nach dem schnöden Mammon, mit denen ihre eigenen „Werke“ nichts zu tun hätten, und das zeigt doch gerade, wie mutig, wie großartig, wie nochniedagewesen ihre „Werke“ sind, und es ist ja klar, daß kein Verlag sich trauen würde, so was zu drucken – öhöm, so ist das als verkanntes Genie, nicht wahr, traurig, aber heldenhaft. Und ziehen sich zurück in ihr Kämmerlein, zwirbeln sich einen saftigen Joint und murksen weiter an der Vollendung ihres hehren „Werks“ herum, auf daß es dann wenigstens posthum angemessen rauskomme.

Gut, das war jetzt übertrieben. Aber es soll mit den Mitteln der Satire zeigen, wie es sich viele Dichter, darunter auch welche, die tatsächlich schreiben können, in jenem Geister- und Schattenreich der „Alternative“ bequem einrichten, rülpsend nach der Stütze verlangen und bei Nachfrage die eingeübten Phrasen über die schicke Anti-Kapitalismus-Theorie der Siebzigerjahre zum besten geben. Aber diese Haltung hat nichts mit Antikapitalismus zu tun! Es ist weder antikapitalistisch noch mutig, was ihr da tut, sondern dumm, feige und schwachsinnig! Das ist keine Revolution, das ist kein „Marsch durch die Institutionen“, denn jegliche Progression, jegliche Dynamik ist weg, es gibt nur noch Stasis! Dümpeln in der Stasisblase und Gott einen guten DJ sein lassen! Wem ist mit einer Meute Dümpelbarden geholfen, die nichts tut außer kiffen, saufen, schlechter Gedichte schreiben und sich in Selbstmitleid suhlen? Wem ist geholfen mit Wracks, die sich nicht mal selbst ernähren können und das der Literaturmafia, Hartz IV und allgemein den schlechten Zeiten in die Schuhe schieben? Es ist hier dasselbe Mißverständnis im Gange wie bei dem angeblich so „rebellischen“ Akt des Drogenkonsums: „aufbegehren“ will man damit gegen einen Staat, der einen in Schubladen zwängt und die Zukunft verbaut – doch was man dann erreicht, wenn der Drogenkonsum zum Ritual geworden ist, ist nur, daß man völlig unfähig ist für jede Art des Aufbegehrens. Man macht sich freiwillig unzurechnungsfähig, man lallt von „Unabhängigkeit“ und ist abhängiger als je zuvor! Man macht sich freiwillig zum Affen – und wer jetzt kommt und sagt, „das ist doch gerade die Negation!“, der hat nicht begriffen, daß es bei der Negation nicht um Stasis geht, sondern um Kinesis, um ein Sich-Bewegen. Stasis aber ist die Negation der Negation. Entweder man IST rebellisch, dann versucht man aktiv und klaren Kopfes mit den ihm zustehenden Mitteln, die Gesellschaft zu humanisieren – oder man ist es NICHT. Dann soll man aber auch endlich diese jämmerlichen, billigen Ausreden ad acta legen! Drogenkonsum ist keine Rebellion, da sie einen der Mittel zur Rebellion beraubt. Und Sitzenbleiben ist auch keine Rebellion.

Es hat sich festgedümpelt. Es war nicht falsch, was Marcuse, Adorno, Dutschke, Burroughs, Wintjes in den Siebzigern geplant hatten, ganz gewiß nicht, es war vielmehr richtig und klug. Es hat sich halt nur festgedümpelt in den dreißig Jahren seither. Es geht nichts mehr vor und nichts mehr zurück; überall blöken einen nur immer wieder dieselben Phrasen an, wenn man sich dem Thema nähern will.

Es waren hehre Ziele, die die Gründer der literarischen Alternative hatten – und es sind immer noch hehre Ziele. Denn sie sind nicht erreicht worden. Warum nicht? Weil zwar jede Generation von Revoluzzern seinerzeit ihr Scherflein dazu beigetragen hat, es anzupacken, die nächste Generation dann aber nicht dort weitermachte, wo die alten Männer aufgegeben hatten und aufgeben mußten, sondern sich hinstellte und wieder die alten Phrasen skandierte! Hier liegt das Problem. Nicht die „schlechte Unendlichkeit“ perpetuieren, Leute, sondern überwinden! Das meinte auch Rimbaud mit seinem „il faut être absolument moderne“. Und das hat z.B. auch Burroughs begriffen, der sich, Jahrgang 1914, ja auch nicht zeitlebens nach dem Stummfilm und der seligen Revolution der 20er Jahre zurücksehnte, sondern die Medien seiner jeweiligen Zeit (Grammophon, Tonband, Kassettenrecorder, Telefon) in ihrer ganzen Weite nutzte, denn nur in den Medien der Zeit kann man GEGEN die Medien der Zeit antreten! Wer also mit einem Füllfederhalter gegen die E-Mail-Manie anschreiben will, braucht sich nicht zu wundern, wenn er ausgelacht wird. Dieses Ansinnen ist genauso reaktionär wie das der „Pro-DM-Partei“, die zur Bundestagswahl 2002 angetreten war. Und wer mit den schriftstellerischen Mitteln der Siebzigerjahre die Jetztzeit erklären will, ist genauso anachron.

Damit wir uns nicht mißverstehen: ich spreche nicht davon, daß sich der kritische Schriftsteller der Gegenwart erst dann als solcher manifestiert, wenn er sich allen möglichen technischen Schnickschnack angeschafft hat. Das ist das andere Extrem der Verfehlung. Die einen kaufen sich den ganzen Brimborium, sitzen dann vor ihrem Maschinenpark und hacken Mist in die Tastatur – die anderen legen sich den Maschinenpark aus angeblicher „Negation“ gerade NICHT zu und glauben irrtümlich, allein schon dadurch die literarische Revolution einen Schritt vorangetrieben zu haben.

Tja, so einfach ist das nicht. Vielleicht ist gerade das das Entscheidende: wirkliche, dynamische Negation ist nie einfach. Billige Ausreden wie das Märchen von der Literaturmafia oder das Sich-Suhlen im Nicht-Verkaufen seines Ichs haben mit ihr nichts zu tun. Denn bei diesen billigen Ausreden geht es nur um Äußerlichkeiten: man gibt den Umständen die Schuld, daß man selbst den Arsch nicht hoch- und nichts auf die Reihe kriegt. Was ist jämmerlicher?

Beim Projekt der „Alternative“, beim Projekt der „Humanisierung der Kommunikation“ (Hadayatullah Hübsch) geht es vor allem aber um eins: um Inhalte. Nicht um Äußerlichkeiten. Nicht um Brimborium. Wir, die kritischen Dichter, Essayisten, Dramatiker, Romanciers, Übersetzer haben die Aufgabe, die Inhalte festzuhalten und bekanntzumachen. Dabei müssen wir vor allem an der Sprache arbeiten und so gut wie möglich ausdrücken, was ausgedrückt werden muß. Ich rede nicht von Stilen, ich rede von Essenz, von der Essenz der Sprachbeherrschung. Wir Schriftsteller sind Handwerker, und so wie es gute und schludrige Handwerker gibt, gibt es auch gute und schludrige Sprachschaffende. Wer aber seine Sprache nicht beherrscht, wer nur mit ihr herumzudilettieren und Phrasen zu dreschen versteht, ist kein Schriftsteller, so wie ein Handwerker, der mit dem Meißel nicht umgehen kann, auch nie den Meister machen kann. Und letzterer stellt sich dann auch nicht hin und seucht davon, er sei halt ein „verkanntes Genie“, dessen „Stil“ der Meister nicht begreife! Sondern er arbeitet an sich, weiter, und genauso hat auch der Dichter die Pflicht und Schuldigkeit, an der Sprache zu arbeiten, wenn sie ungenügend ist, wenn zuviel Luft dazwischen steht, wenn sie zuwenig ver-, gedichtet ist. Wer sich darüber aufregt, daß sich im Internet nur Analphabeten austoben, der sollte genau hier aktiv gegenstinken und mit seiner eigenen Schreibe dazu beitragen, daß es weniger inhaltslosen Analphabetismus im Netz gibt. DAS ist „Marsch durch die Institutionen“! Nicht von hinten motzen, sondern von vorne handeln! Laberflaschen brauchen wir nicht, die sitzen im Café Schliemann schon zur Genüge! Und wer sich in dem Gedanken sonnt, „die Verlage“ seien zu dumm für seine ach so komplexe Lyrik, weil „die Lektoren“ heutzutage ja eh nur akademisch verblödete Schmalspurgeister seien, der mache sich auf und arbeite als Lektor in einem Verlag. Wenn er es schon besser KÖNNTE, dann soll er es TUN!
Ich arbeite. Und ich arbeite an der Sprache, an meiner Sprache, an der Sprache als Stemmeisen im Steinbruch der Kommunikation. Und hier sind wir bildlich bei einem alten Bekannten: bei Sisyphos. ANTIKAPITALISMUS IST EINE SISYPHOSARBEIT! Antikapitalismus heißt nicht, sich nicht ums Geld kümmern müssen, weil die Stütze ja das Problem vom Staat ist und man sich selbst bekanntlich mit Höherem, mit der Beweihräucherung des eigenen verkannten Genies nämlich, befassen muß. Antikapitalismus heißt, sich auflehnen dagegen, daß uns Äußerlichkeiten und Institutionen beherrschen. Und das ist nur in aktiver Arbeit, in Arbeit am Inhalt, in mühevoller, hamletischer Klein- und Mauwurfsarbeit zu erreichen.

Sie haben eine Shakespeare-Theorie? Sie sind der Ansicht, Baudelaire könnte besser und treffender übersetzt werden, und Sie würden sich das zutrauen? Sie sind plötzlich dahintergekommen, was Dante mit Nietzsche und beide mit dem Jetzt zu tun haben? Gut! Zeigen Sie uns das! Schreiben Sie, übersetzen Sie! Wenn es wirklich neu ist, wird es sich Bahn brechen; wenn nicht, sind Sie noch nicht soweit. Aber: arbeiten Sie weiter! (Und wenn ein Verlag Sie ablehnt, versuchen Sie es bei einem anderen. Das haben die vorangegangenen Literaturrevoluzzer unzweifelhaft erreicht: es gibt nicht mehr „die Medien“, es gibt viele Medien, „linke“ und „rechte“, große, mittelgroße, kleine, mikroskopische Verlage. Wer behauptet, von „den Verlagen“ abgelehnt worden zu sein, hat es entweder nicht ausreichend versucht, oder sein Buch ist ungenügend.)
Der Sinn des Schreibens ist eine absolute Präzisierung, jedenfalls für mich. Die Verdichtung der Realität in ihren jeweiligen Facetten in der Sprache. Darum geht es mir, daran arbeite ich, als Übersetzerin und Autorin. Ob man damit reich wird, ist mir egal. Aber leben kann man davon, ohne seine Seele billig ans Arbeitsamt verkaufen zu müssen.

Leute! Entdümpelt euch!

 

 

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Zuerst erschienen: In den Siebzigern steckengeblieben“ – Kritik an der „literarischen Alternative“, von: Ní Gudix, in: Luftruinen-Ausgabe 1, Sommer 2008

Der Urvater des Social-Beat. Hadayatullah Hübsch. Photo: Masroor-ahmad

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