Tastend schleppte sie sich durch die modrige Dunkelheit. Hangelnd am feuchten Gemäuer, einen Weg suchend, nach einer Lichtquelle Ausschau haltend, schlich ein Angstschauer ihren Rücken hinab und entfaltete sich allmählich über den Boden im gesamten Gewölbe. Nacht war es hier, ein Verlies, Sonne und Mond ausgeschlossen, Fäkaliendämpfe stiegen ihr in die Nase. Sie hielt inne, ein Wechselspiel, ungestüme Ranken wucherten in alle Richtungen. Sie drehte sich zur anderen Seite und berührte mit einer Hand eine glitschige Stelle. Ekel ergriff sie, würgend tastete sie sich weiter an unebenen, matschigen Steinen in die andere Richtung, den Ausscheidungen entfliehend. Eine Brise unverdorbener Luft zog an ihr vorüber, ein Fenster, eine Tür oder nur eine schmale Ritze? Frische, Nebel, Herbstwald, klamme Winde suchten ihre Bahn zur Nase, bald jedoch verband sich die eindringende junge Feuchte mit dem Moder des Kellers zu einem Dunst schmutzig nasskalten Atems in ihrem Empfinden, der ihr nach den übelriechenden Schwaden erschien, wie ein staubig würziges Parfum. Die Duftwasserpforte erweckte den Anschein die richtige zu sein, entgegengesetzt zu derjenigen mit Würmern, Insekten und in Dunkelheit wuchernden Gewächsen auf der Notdurft eines Obdachlosen oder eines herrenlosen Tieres. Die kantigen Steine muteten auch weniger wässrig und schmierig an, sodass sie sich Silberstreifen gesonnen bis zur nächsten Wegscheide hervor tastete. Wie sie an diesen Ort der Dunkelheit gelangt war, entzog sich ihrer Erinnerung, sie fand sich vor, konnte nicht erschließen, ob sie sich in Gefangenschaft befand oder ein Weg in die Freiheit existierte. Langsam ermüdend stolperte sie der Biegung folgend voran, in regelmäßigen Abständen fielen ihr die ermüdeten Lider über die Bilder der Nacht, wenige Schritte entfernt befand sie sich an einer Gabelung, fühlend und schnuppernd entschied sie sich für die breitere trockenere Fährte, tastete sich bis zu einer moosigen Stelle vor, sank auf den Boden und schloss die Augen, mit der rechten Hand einen Pilz greifend, nahm sie ihren ausgedörrten Körper wahr. Die rettende Kost verschlingend, besann sie sich ihrer Situation und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Kreuchendes Getier lief über ihre Haut, krabbelte umher, versteckte sich in allen Ritzen und Körperöffnungen. Sie sprang auf und schüttelte die Insekten von ihrem Leib, vor deren Gesellschaft sie sich graute.
„Geht fort!“, schrie sie und rannte den Gang entlang.
Durch Nahrung und Schlaf gestärkt, die Kloake meidend, begab sie sich zurück zur Mündung und schlug die schmale nasse Gasse ein. Wasser rann vom Gemäuer, ihr Schuhwerk war durchnässt, der stickige Brodel ließ sie kaum atmen. Sie schleppte sich voran, bis der Pfad sich verjüngte und sie auf Widerstand stieß. Tastend suchte sie nach einem Schlupfwinkel, es fand sich kein Spalt, keine Luke, durch diese sie durchzukriechen vermochte. Allmählich bemerkte sie, dass die Zuflucht hier endete, verzweifelt drosch sie mit beiden Fäusten gegen das Mauerwerk. Der überschüssigen Energie entledigt, kehrte sie um und entschloss sich die fäkalienverseuchte Witterung aufzunehmen.
Würgend durchquerte sie auf Zehenspitzen die Notdurft, rutschte aus und fiel in den widerlichen Matsch. Unfähig ihre Abscheu weiterhin zu unterdrücken, erbrach sie die Überreste der letzten Mahlzeit. Den faulenden, dampfenden Schlamm aus altem Kot und frischem Erbrochenen von sich streifend, stand sie auf und ließ den verwesenden Unrat hinter sich.
Kurz aufatmend hielt sie inne. Ihre Blicke ohne Gedeihen in diesem Bunker, erfasste sie die Aussichtslosigkeit dieses unerwünschten Unterfangens, hangelte sich hinfort und stolperte über einen harten, scheppernden Gegenstand, bückte sich nach diesem und nahm ihn an sich. Sie ertastete ein Plastikgebilde, an dessen Höhe sich ein dünner Faden befand, welcher einen herunter fallenden Kopf mit dem Rumpf verband. Anstelle von Beinen erfühlte sie zwei Öffnungen am Unterleib des Spielzeugs. Während sie die Puppe berührte, stiegen für einen Moment Kindheitserinnerungen in ihr auf.
Heulend brach sie zusammen, nicht ahnend, wo sie sich befand. Die Tränen trocknend floh sie, dem Geruch folgend, trat sie den Rückweg an, geschwächt durch den Kampf, suchte sie nach einer weiteren Verkostung. Um vorerst wenigstens den Durst zu löschen, leckte sie das Rinnsal von den alten Mauern. Sie begab sich zurück zu der moosigen Stelle, nach Nachtgewächsen, Würmern und Insekten greifend, den Widerwillen überwunden, stopfte sie selbst die kriechenden Tierchen in sich hinein, um zu überleben. Mit geschlossenen Augen und zugehaltener Nase rannte sie den Gang entlang, nicht mehr spüren wollend, in welchem Gefängnis sie sich befand. Mit zugekniffenen Lidern stürzte sie über einen harten rollenden Gegenstand und schlug mit dem Kopf auf das Pflaster. Gekrümmt vor Schmerzen klammerte sie sich an die zerfetzte Puppe und rollte sich in den dreirädrigen Kinderwagen ein.
Licht durchflutete den Raum, verzerrte Spiegelbilder erblickend, war sie der Dunkelheit entkommen.
„Wo bist du? Wann bist du? Wer bist du?“, fragten die Fratzen ohne Unterlass von allen Seiten. Vor Schreck gelähmt, mit weit aufgerissenen Augen suchte sie einen Ausgang, ein rettendes Bild, einen ruhigen Ort. In alle Richtungen schweifend, erblickte sie in jeder Ecke und jedem Winkel dieser Zelle jedoch nichts weiter als grauenhafte Bildnisse ihres Selbst. Unfähig den Blick von der bestialischen Wahrheit abzuwenden oder die Grimassen kennenzulernen und Freundschaft mit ihnen zu schließen, entschied sie sich, ihnen den Kampf anzusagen.
„Lasst mich hinaus!“, schrie sie und hämmerte mit beiden Fäusten gegen ein besonders hässliches Ich.
„Wer bist du, dass du dir erlaubst, mich zu schlagen?“, erwiderte der Spiegel.
„Ich bin ich!“ Sie drosch weiter auf das Abbild ein.
„Ich bin du, wann bist du?“, gab das Zerrbild spöttisch zurück, bevor das Glas zersprang.
„Wann bist du?“, grölte eine noch gräulichere Fratze aus dem dahinter liegenden Kabinett, den Kriegsschauplatz verteidigend.
„Ich bin jetzt!“, schrie sie verzweifelt, schlug fortan mit unzureichender Kraft und erntete boshaftes Gelächter von allen Seiten.
„Wo bist du?“, neckte die nächste Entartung.
Sie floh, ein Versteck suchend, in die Pfade der Finsternis zurück. Kurz aufatmend ertastete sie gallertartiges Material, frei von Augenschein, in dieser unergründlichen Dunkelkammer. Die Schrecken der Spiegelichs drohend im Nacken, kraxelte sie weiter. Die Masse gab nach unter ihr, feucht weichend. Suchend nach Beinen im glitschigen Nichts, erhoffte sie Halt, grausam enthüllte sich das Weichen der Extremitäten. Der Gesichtshöcker beendete seine Plackerei: es entfaltete sich nicht ein Hauch eines Aromas mehr in seinen Knospen. Robbend quälte sie sich durch das Gelee, tastend nach einem Angelpunkt, nach ein paar Augäpfeln, die sie erkannten: kennenlernen des Innersten, des haltlosen Nichts, ohne Struktur sie ausrutschen lassend im Selbst. Gleich einem Irrgarten, ohne Ausgang, befand sie sich in der Masse, wissend, dass ein Entrinnen nicht möglich war. Mit der Gewissheit, die Substanz zu entbehren, entledigte sie sich ihres physischen Materials.
Weiterführend → Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Vertiefend ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.