Wenn man Sehbeschwerden hat, sollte man möglichst einen Augenarzt aufsuchen. Allerdings wird er einem kaum helfen können, wenn die Beschwerden gedanklichen Ursprungs sind und sich als geistige Einäugigkeit diagnostizieren lassen.
Auf solche Einäugigen trifft man immer wieder einmal im Krankenzimmer der Literaturkritik. So wurden erst vor kurzem im neuen ZEIT-Literaturmagazin ausschließlich die Zeitschrift Bella triste und die beiden Lyrik-von-jetzt-Anthologien als Foren der jungen weitverzweigten deutschsprachigen Lyrikszene genannt. Mit einem weiteren Beispiel journalistischer Beschränktheit stimmte nur wenige Tage später die FAZ in den Kanon der Einäugigen ein. In einem Beitrag über Nazim Hikmet ist dort unter anderem zu lesen: „Bis heute ist Nazim Hikmet der einzige türkische Lyriker, der außerhalb seiner Heimat einem breiteren Kreis von Literaturliebhabern auf allen Erdteilen bekannt (geblieben) ist.“
Offenbar hat der Verfasser dieser Zeilen noch nichts von Fazil Hüsnü Dağlarca gehört, der am 15. Oktober 2008 im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Dağlarca ist zumindest unter Lyrikkennern ebenfalls ein international renommierter türkischer Dichter, von dem auch mehrere Bücher im deutschen Sprachraum erschienen sind (zuletzt 1999 der Lyrikband Steintaube im Unionsverlag). Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete ihn einmal als „die überragende Figur in der Dichtung seines Landes“. Und der Kölner Stadt-Anzeiger meinte, daß Dağlarca einer der letzten großen Poeten des 20. Jahrhunderts sei, „vergleichbar mit Neruda, Eluard oder Aragon“.
Wenn man allerdings einäugig durchs lyrische Weltgeschehen torkelt, wie es offenbar der FAZ-Schreiber tut, bleibt einem so manches verborgen, was durchaus in Sichtweite liegt. Bei hinreichend klarem Blick wäre er auch vorsichtiger mit seinem Urteil gewesen, daß Nazim Hikmet der größte türkische Lyriker des vergangenen Jahrhunderts gewesen sei. Hätte er seinen Superlativ in den Plural gekleidet und Fazil Hüsnü Dağlarca an die Seite von Hikmet gestellt, wäre er nicht in den Kanon der Einäugigen geraten.
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Eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland hier.