Vom Rang dieses Autors spricht in deutlicher Weise die große Zahl der Nachrufe, die man ihm nach seinem Tod im Juni 2007 widmete. Um Wolfgang Hilbig selbst war es etwa nach der Dreifachpreisung mit Huchel-, Büchner- und Walter-Bauer-Preis im Jahr 2002 stiller geworden, der Dichter kollaborierte in der zwiespältigen Dissonanz von Ruhm und Scheidung wieder mit dem Alkohol, war bereits wenig später in den Kampf mit dem Krebs verwickelt. Bereits zu Lebzeiten begann, wovor sich Wolfgang Hilbig nach eigener Aussage immer gefürchtet hatte: die Sichtung seines vorhandenen Werks in zwei Prosabänden, die das Vorgelegte („Erzählungen“, 2002) auswählte und das Verstreute („Der Schlaf der Gerechten“, 2003) sammelte.
Seitdem mehren sich die Untersuchungen und Ansätze, eine Deutung der Hilbig’schen Gabe wie auch von dessen Unglück mit der Welt zu finden. Neben zahlreichen biografischen Schriften – hier wäre die motivische Biografie von Karen Lohse hervorzuheben – und dem Wirbel, den der so furiose wie erschreckende Quasi-Enthüllungsroman „Nachtgeschwister“ von Natascha Wodin, Hilbigs Ex-Frau, auslöste, manifestiert sich die Ernsthaftigkeit einer fortgesetzten Beschäftigung mit einem der zugleich rabiatesten und bedeutendsten Œuvres der deutschen Nachkriegsliteratur in der auf sieben Bände angelegten Werkausgabe jenes Dichters, der dem Industrierevier Mitteldeutschlands entstammte und dem seine Herkunft und Versprengung zum Schreib-Motor wurden.
Nach der Herausgabe sämtlicher Gedichte sowie einem gedrängten ersten Band mit Erzählungen und Kurzprosa dringt der S. Fischer Verlag nun im dritten Band, enthaltend die Novellen „Die Weiber“, „Alte Abdeckerei“ und „Die Kunde von den Bäumen“, ins Zentrum der Visionen Wolfgang Hilbigs vor. Sie gehören zum Dunkelsten, Metaphern- und Rätselreichsten, was der Dichter an Prosa schuf. Zeitgleich sind sie als Sittenbilder einer zerbrechenden Ära zu lesen. Der allgemeinen Auffassung, darin einen idealen Einstieg in Hilbigs Kosmos vorzufinden, mag man widersprechen, da sich dafür einige der frühen imaginativen Texte oder der eine oder andere sich an einer Art schwarzer Ironie reibende Spättext vielleicht besser eignen. Trotzdem zeigen sie den Autor auf der Höhe seines Schaffens und wirken ein Vielfaches konzentrierter etwa als die Romane.
„Die Weiber“, erschienen 1987 als Hilbigs erste eigenständige Prosaarbeit nach der Übersiedlung von Leipzig in die Bundesrepublik, markierte seinen Durchbruch als Autor. Der stark an den monomanen Verfasser erinnernde Protagonist ergeht sich in zunehmend scheiternden Versuchen, der Enge und Ereignislosigkeit der späten DDR zu entkommen – er muss dabei zwangsläufig in einer Sackgasse landen. Die Realität vermischt sich mit Räuschen und Träumen, in denen die nur schwerlich als Held zu bezeichnende Hauptperson Ansprachen vor den vor sich hin gammelnden Kadern der Kreisleitung hält, dem Rotz der Mülltonnen Schönheit andichtet und sich immer wieder am für Hilbig als Motiv buchstäblich gewordenen Küchentisch in der mütterlichen Wohnung wiederfindet. Die Erlösung liegt in den Weibern, die in der Gefängniswäscherei auf ihn ‚warten’.
Eben jene Hoffnung ist in den folgenden beiden Novellen bereits verloren – in der „Alten Abdeckerei“, die man wohl tatsächlich als das Kernstück der Hilbig’schen Dichtung deuten muss, ist der Protagonist auf unheimlichen Wanderungen in einer völlig verheerten Gegend, wie man sie in den 1980er-Jahren zwischen Leipzig und Altenburg vorfand, unterwegs, hadert mit den Vorzeichen des Untergangs und wohnt schließlich der Verschlingung jener Fabrik, die als Metapher für das zerrissene Land, in dem der Held zu leben hat, steht, durch den Leviathan bei. Dass jeder Katastrophe auch ein Anfang innewohnt, kann angesichts der nur scheinbaren Idylle am Ende der Erzählung lediglich eine fragile Hoffnung sein: „Und endlich an einigen untergegangenen Ruinen vorüber, an Germania II vorüber, wo in der Flut die Sternbilder spielen, wo die Minotauren weiden.“ Dem geht eine Übung in apokalyptischen Schleifen, endend in Echolalie voraus, auf die die Rezensentin Marion Titze in ihrer Erwägung seinerzeit mit einem „Wehe uns!“ reagierte. Es ist jenes ‚Wehe uns‘, das sich ganz ähnlich durch „Die Kunde von den Bäumen“ zieht.
Ergänzt durch ein kundiges, seinem Freund Wolfgang Hilbig nahe auf der Spur bleibendes Nachwort von Ingo Schulze und die zusätzliche Aufnahme einer Frühfassung des mittleren Teils der letzten Erzählung, rundet sich der dritte Band der „Werke“ zu einem verstörend-lohnenden Blick auf ein von Obsession und Verzweiflung getriebenes Schreiberschicksal in den Wirrungen der Katastrophe des 20. und am Bruch zum 21. Jahrhundert. Im Nachhinein wäre eventuell in Erwägung zu ziehen gewesen, auch den vorangegangenen Band zu teilen, in dem sich auf 800 Seiten über sechzig Prosatexte geradezu auf den Füßen stehen, während es im aktuellen Band dahingehend erheblich großzügiger zugeht. Namentlich bei der ebenfalls umfangreichen „Brief“-Trilogie und dem gleichsam hundertseitigen „Er, nicht ich“ wird so leicht der Eindruck erweckt, sie stünden hinter den Texten des Novellen-Bandes zurück – ein Umstand, willl man meinen, der nach genauerer Prüfung kaum den Tatsachen entspricht.
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Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.