Eleonora Duse

„Die Duse“ zählt neben Sarah Bernhardt und Mrs. Patrick Campbell zu den großen Theaterschauspielerinnen ihrer Zeit. Ihr Spiel war subtil und wenig theatralisch und gilt als wegweisend für das Moderne Theater. Sie verkörperte zumeist leidende, aber willensstarke Frauencharaktere.

Eleonora Duse, Porträt: Franz von Lenbach

Diese Woche haben wir in Wien, ein paar tausend geweihte Menschen, das Leben gelebt, das sie in Athen in der Woche der großen Dionysien lebten.

Da lebten sie in Schönheit, mit bebenden Nerven: Künstlernamen waren in ihrem Mund mit dem ehernen Ton der großen Berühmtheit, bei dem die Menge der Unberühmten bebt, wie die phrygischen Tänzer beim Klirren blanker Klingen.

In ihnen zitterten die Rhythmen der neuen Dithyramben; davon war in ihren Herzen allen ein ruheloser Rausch und unbestimmte süße Sehnsucht.

So saßen sie im Theater und sogen, wie Saft der Weinbeere, die Seele eines großen Künstlers aus funkelnden Schalen, das waren die funkelnden Verse; und sie verstanden die Schönheit weicher Körper, die sich wiegten, und die königliche Kunst der großen Gebärden hatte ihnen einen Sinn.

Nachts aber konnten sie nicht schlafen und wandelten in Scharen auf wachen, weichen Fluren und redeten im Rausch von der neuen Tragödie.

Dieses Leben haben wir gelebt, ein paar tausend geweihte Menschen, in der ganzen großen, lauten Stadt.

Und dionysischer Festzug, Dithyrambos und Mysterium war uns die Gegenwart einer einzigen Frau, einer italienischen Komödiantin.

Sie reist durch Europa; sie ist sehr berühmt. In Deutschland kaum gekannt. Sie heißt also Eleonora Duse.

Wir haben sie dreimal gesehen; ihr Bild ist seither unaufhörlich um uns, wie der Zwang einer Suggestion; aber wir wissen nicht, wie sie aussieht.

Wir sahen einmal eine Fürstin Fedora: eine große Dame, mit blassen, nervösen, energischen Zügen; ihre Lippen waren hochmütig, und in dem Stil, wie sie die Handschuhe auszog, war die aristokratische Grazie einer Sacré-cœur-Erziehung.

Dann sahen wir eine kleine Frau, die hieß Nora; sie war kleiner, viel kleiner als die Fürstin und hatte ganz andere, lachende Augen; sie trippelte im Gehen, wo die andere schwebte, und schwatzte, wo die andere eine Konversation führte; sie hatte im Lachen und Weinen den Ton eines kleinen Kindes und kniete auf den Stühlen und schaukelte und kauerte mit der herzigen Grazie der Frauen aus der kleinen Bourgeoisie, wenn sie sehr jung sind.

Zum dritten Male sahen wir die mit den Kamelien und der sehnsüchtigen Sentimentalität. Da war in weichen Linien, in schwimmenden Blicken, in naiven Geständnissen und Lockungen der Glieder die ganze Grazie der Kokotte in Moll.

So sehr hat die Duse die eine große Schauspielergabe: die der Gestaltung. Sie schafft aus den Intentionen des Dichters heraus mit einem Scharfsinn, dessen Resultat wie Naturnotwendigkeit aussieht. Ihre Schauspielerei ist wie die Historik der Goncourts: wie diese aus einem Kleiderfetzen, einem Menü und einem Sonett eine Gesellschaft rekonstruieren, so konstruiert die Duse aus einem hingeworfenen Wort, einer Gebärde, einer Anspielung den lebendigen Menschen, den der Dichter gesehen hat. So wäre sie die vollendete Schauspielerin des Naturalismus. Sie könnte tote Schlagworte beleben und die kühnsten Hoffnungen derer wahr machen, die an die Nachahmung der Natur glauben.

Aber sie steht über dem Naturalismus, wie Balzac, Shakespeare und Stendhal über den Goncourts und Daudet und Dickens stehen.

Sie ist imstande, ihre Persönlichkeit scheinbar zu verwischen: aber die Natur läßt sich nicht verbergen. Die Duse wäre eine naturalistische Schauspielerin, denn ihre Individualität nimmt jede Form an; aber die Individualität, als Form unterdrückt, kehrt als Geist wieder, und so spielt die Duse nicht bloß die realistische Wirklichkeit, sondern sie spielt auch die Philosophie ihrer Rolle. Sie ist ganz Marguerite, ganz Fedora, ganz Nora, aber sie weiß mehr von Nora, als Nora von sich selbst weiß. Genau so wie Julien Sorel oder Hamlet. An diesen ist nirgends Unwahrheit als in dem Übermaß von Klarheit. Darin liegt der ganze Unterschied zwischen dem schaffenden Dichter und dem Naturalisten, der Wissenschaft von der menschlichen Seele treibt, als wie sie sich dem gemeinen Auge offenbart.

Wenn Nora Helmer an den Tod dachte, flog vielleicht kein redender Schatten über ihre Stirn; wenn Nora Helmer schwere Dinge dachte und tiefe, waren ihre Augen vielleicht nicht heilig, sondern stumm und leer. Wenn man Nora Helmer naturalistisch darstellen wollte, müßte man sich vielleicht in die Absurditäten der Wirklichkeit hüllen und in einen Leib, der nichts verrät: der Leib der Duse aber schmiegt sich an ihre Seele, wie die weichen, feuchten Gewänder, mit denen die Griechen die redende Schönheit ihrer Statuen umhüllten, sich um die Glieder schmiegten.

Ihre Finger erzählen das Zagen eines Entschlusses, Verlegenheit, Unruhe, Gereiztheit, Haß, Verachtung.

Auf ihrer Stirn spiegeln sich die Stimmungen, die kommen und gehen.

Mir fällt eine Bemerkung von Raphael Mengs über die Draperie des Raphael ein. »Alle Falten«, sagt er, »haben bei ihm ihre Ursachen, es sei durch ihr eigen Gewicht oder durch die Ziehung der Glieder. Man siehet an den Falten, ob ein Bein oder Arm vor dieser Regung vor oder hinter gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen oder gehet oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmet.«

Das ist, mutatis mutandis, die Technik der Duse; wie dort der Faltenwurf Bewegungen des Leibes, so verraten hier flüchtige, feine, halbheimliche Gesten des Leibes die schnellwechselnden Bewegungen der Seele.

Und die halbunbewußten Regungen, die sich verbergen, die seltsamen Verkettungen von Psyche und Physis, die sich nicht malen und nicht sagen lassen, wurden hier für uns durch eine große künstlerische Offenbarung lebendig.

Darum lebten wir diese Woche wie im Fieber. Frühmorgens lasen wir das Stück von gestern und schlürften die Schauer noch einmal und suchten uns die verschwebten Schwingungen ihrer gestrigen Seele hervorzurufen.

Und wir blätterten in allen Büchern und verstanden jedes trunkene Lob großer Komödianten, das wir früher nie verstanden hatten: Sheridan über Garrick und Musset über die Rachel und Börne über die Sontag, und freuten uns an Verwandtem.

Und gegen Abend kam immer mehr Unruhe über uns, Stimmungen mit neuen Farben jagten einander, und solange wir sie hörten, klangen die Saiten in uns mit, an denen selten ein Künstler rührt und nur einer, der sich selber tief aufreißt und die unnachahmlichen Töne der Nerven hat.

Und vieles gewann für uns einen neuen Sinn und das künstliche Leben unseres Innern einen großen Reiz mehr.

Denn dazu, glaube ich, sind Künstler: daß alle Dinge, die durch ihre Seele hindurchgehen, einen Sinn und eine Seele empfangen. »Die Natur wollte wissen, wie sie aussah, und schuf sich Goethe.« Und Goethes Seele hat widerspiegelnd tausend Dinge zum Leben erlöst. Und dann gibt es Künstler, die waren viel kleinere Spiegel, wie enge stille Brunnen, in denen nur ein einziger Stern blinkt: die gossen den Schmelz ihrer Seele um ein einziges Ding und tauchten ein einziges Fühlen in Schönheit. So einer war Eichendorff, der das sehnende Suchen offenbarte und das rätselhafte Rufen der atmenden Nacht, wenn die Brunnen plätschern. Und Lenau hat dem Schilf reden zugehört und der Schönheit der Heide einen Namen gegeben. Und manche Wolken, schwere goldengeballte, haben ihre Seele von Poussin, und manche, rosigrunde, von Rubens, und andere, prometheische, blauschwarze, düstere, von Böcklin. Und es gibt Regungen unserer Seelen, die Schumann geschaffen hat; und es gibt Gedanken, die ohne Hamlet uns nie geworden wären; und viele unserer Wünsche haben die Farben aus einem vergessenen Bild und den Duft von einem verwehten Lied.

Die lebendigen Künstler sind wie die wunderbaren toten Leiber der Heiligen, deren Berührung vom Starrkrampf erweckte und Blindheit verscheuchte.

Die lebendigen Künstler gehen durch das dämmernde sinnlose Leben, und was sie berühren, leuchtet und lebt.

Gleichviel, ob sie mit neuen Worten Heimlichkeiten der Seele in Formeln fassen, oder ob sie das dumpfe Wogen in uns durch Harmonien heiligen, oder ob sie in verhallenden Worten und flüchtigen Gebärden das Unbewußte in uns zur Erkenntnis heben und in dionysische Schönheit tauchen.

 

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

Weiterführend →

Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.