Schmiede

 

Durch Zufall war er auf einem seiner längeren Spaziergänge in dieses Industriegebiet geraten. Was anderen als Wandern erschien, wirkte ihm als ausgedehnte Form des Lustwandelns. Er hatte es zuvor nie wahrgenommen. Normalerweise fährt man mit dem Auto möglichst ohne nach links und rechts zu schauen an ihnen vorbei, Orte wirtschaftlicher Produktivität. Manchmal kehrt man ein, wenn sich dort auch Baumärkte befinden oder andere nichtinnenstadtrelevante Läden. Große Discounter, die ihre einladenden Fronten feindlich gegeneinander richten und zwischen sich den Parkplatz als Niemandsland dulden. Jeder weiß, dass in diesen Gebieten meist hart gearbeitet wird, doch in der Freizeit möchte man kaum daran denken, auch wenn die Übergänge zwischen arbeitendem und privatem Leben durch die neuen Medien immer fließender werden. Da kann es auch schon einmal passieren – und das mehrmals in der Stunde – dass die beruflichen digitalen Briefe auf dem intelligenten Firmenmobiltelefon, welches man natürlich auch privat nutzt, abgerufen werden. Unvermittelt hatte ihn sein Weg aber in dieses Gebiet geführt, ohne Vorwarnung hatte der Schotterweg hier ein Ende gefunden. Neue, in einem anonymen Stil errichtete Gebäude zeigten ihm ihre kalte Schulter. Auf einigen wenigen Parkplätzen gähnende Leere, meist jedoch gedrängte Fülle. Sogar samstags und sonntags wurde hier gearbeitet. Die ehemals geltende Wochenendruhe hatte man aufgelöst, niemand wusste am Anfang des Jahres, wann die freien Tage kamen, alle zwei Monate wurden die Rhythmen neu bestimmt. Das Geld muss hier verdient werden, solange es möglich ist, auch wenn die dunklen Wolken einer zusammenbrechenden Konjunktur schon am Horizont zu sehen sind. Im Moment zeigen sich die Auftragsbücher noch prall gefüllt mit lohnenden Margen. Margen müssen abgeschöpft werden. Wer jetzt nicht in der Lage ist, sich ein dickes Polster zuzulegen, der würde die nächsten Jahre nicht überstehen. Der Euro erscheint in Gefahr und eine D-Mark ist nicht gerade ein erstrebliches Ziel, das würde die Waren zu sehr verteuern.

Alles in diesem Industriegebiet erschien Herrn Nipp sauber und glänzend, sogar die grünen Gitterzäune, die man um die einzelnen Firmengelände gebaut hatte, wirkten frisch gewaschen. Kaum einmal, dass fliegende Papiere sich irgendwo verfangen hatten, sogar die Straße war frisch und feucht gekehrt. Dieses Gebiet zeigte eine Klarheit und Perfektion, die hinter dem wirtschaftlichen Kalkül steckt. „Wir bieten dem Kunden ein sauberes Bild“ und dies rentiert sich. Imagepflege.

Nur vor einer Halle türmten sich rostige Gestelle und abgeschabte Gerätschaften. Zwei alte Lieferwagen standen davor, ein geschlossener Transporter, der andere mit Ladefläche. Beide mit einem aufgeplatzten schwärzlichen Lack versehen. Die Oberflächen wirkten alten, gerissenen Ölgemälde gleich. Was aber auf jenen als schön angesehen wurde, galt bei Autos als schäbig. Unwillkürlich musste er an Verbrecherkarren denken und stellte sich schon vor, wie hiermit nächtliche Raubzüge unternommen wurden. Was mochten dies für Menschen sein, die ihr Eigentum so unbedacht verlottern ließen? Vor der Halle standen drei Männer im hellen Sonnenlicht, in ihren derben Arbeitsklamotten wirkten sie trotzdem auffallend frisch und aufgeschlossen. Wohl waren die Gesichter konzentriert, allerdings konnte man ihre Zufriedenheit sehen, eine Ausstrahlung, die nur wenige Berufstätige haben. Nur jene, die zufrieden ihre Arbeit machen, nicht unbedingt, weil sie mehr Geld verdienen, aber wahrscheinlich, weil ihre Tätigkeit geschätzt wird. Weil sie Freude an ihrem Tun haben und stolz auf die Ergebnisse sind. Und sie zwinkerten Herrn Nipp zu, als hätten sie seine neidvollen Gedanken bemerkt.

   

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421