Eine Erinnerung an Joseph Zoderer

 

Wahrscheinlich sind wir uns schon in den ganz frühen Sechzigerjahren über den Weg gelaufen, nämlich an der Universität Wien, wo wir beide zur selben Zeit Theaterwissenschaft und Philosophie studierten. Wir haben uns aber nicht als Autoren wahrgenommen, weil wir beide solche noch gar nicht waren. Irgendwann und irgendwo sind wir einander wiederbegegnet, aber ich weiß nicht mehr wo: es könnte bei der Tagung in Unterkärnten gewesen sein, im Kärntnerslowenischen, wo wir über Minderheiten(sprachen) gesprochen haben. Und Zoderer könnte als Südtiroler, der mit dem Problem der Zweisprachigkeit sein Leben lang konfrontiert war und ist und das sein Werk durchzieht („Die Walsche“), daran teilgenommen haben; aber genau weiß ich das nicht mehr. Wahrscheinlich sind wir uns in Fresach zum erstenmal als Autoren begegnet, weil aus der Zeit das Porträtfoto stammt, das ich von ihm gemacht habe; ein noch junger Bursch. Heute sind wir beide über siebzig! Unglaublich!

Jedenfalls haben wir einander einmal auf der Kärntnerstraße getroffen, das muß später gewesen sein, so in den Neunzigerjahren. „Was machst denn du da!“ – so die Frage und Gegenfrage. „Hast a bißl Zeit, setz ma uns wo nieda?“ Wir hatten. Und gingen in den von mir damals noch geliebten Esterhazykeller bei der Naglergasse. Viele Male war ich früher dort; jetzt ist ein anderer Pächter, das Lokal, im Sommer heraußen im Haarhof, hat seine Identität „verloren“, nein: sie wurde vernichtet – wie so vieles Wertvolle in Wien, wo alles der Gleichmacherei geopfert wird. Also saßen wir so gegen 17 Uhr im Esterhazykeller, aßen ein paar Liptauerschnitten und tranken zügig Rotwein, damals noch in ¼ l-Henkelgläsern, dazu. Ich erzählte ihm, daß ich den Film „Die Walsche“ gesehen hatte und begeistert davon war. „Ja“, sagte er, „da muß ich heute Abend um sieben Uhr noch hin, ein paar Worte sagen, der Film wird im Votivkino gezeigt.“ – „Na, da haben wir ja noch Zeit“, sagte ich. Und so unterhielten wir uns in einem sehr ausführlichen freundschaftlichen Gespräch. Kurzum: Er versäumte die Zeit, wo er hätte dort sein sollen. „Verdammt nochmal“, sagte er, „jetzt hab ich das verpaßt!“ Also, weil’s eh schon wurscht war, tranken und redeten wir weiter. Irgendwann brachen wir auf, jeder dorthin, wohin er gehörte.

Viele Jahre später, vor noch nicht langer Zeit, durfte ich in der Wohnung der Literar Mechana in Venedig – in der ehemaligen Wohnung der so jung verstorbenen Südtiroler Autorin Anita Pichler – zu Gast sein. Dort fand ich die Monographie von Anita Pichler, ein schönes großes Buch. Und darin auch einen berührenden Essay über diese Autorin vom Zoderer. Ich schrieb eine Art Erzählung über dieses Buch und die dadurch erfolgte Begegnung mit Anita Pichler im nachhinein. „Nachträgliche Begegnung“ ist der Titel. Ich schickte dem Joseph Zoderer diesen Text mit ein paar Zeilen. Nach einiger Zeit kam ein freundlicher Brief von ihm, in dem er sich dafür bedankte. So schließen sich manchmal die Lebenskreise; oft verläßlicher, als man denkt.

***

Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.