Koma 2008

Tagebuch für Uli Blendinger (2.8.1946 – 28.11.2008)

Donnerstag, 24.7., etwa 15 Uhr

Zusammenbruch zweihundert Meter vor deiner Wohnung in der Riemenschneiderstraße. Passanten finden dich, rufen den Krankenwagen, du kommst in die Intensivstation des Petrus-Krankenhauses im Bonner Talweg. Herzinfarkt. Du liegst bewegungslos im Wachkoma, die Augen sind nur einen kleinen Spalt geöffnet, du reagierst nicht. Verletzungen an der Stirn, wahrscheinlich warst du bewusstlos kopfüber auf den harten Asphalt des Gehwegs gestürzt. Die Ärzte nehmen an, dass dein Gehirn mindestens eine Viertelstunde nicht richtig durchblutet war.

Montag, 28.7.

Vormittags rufe ich in der DFG an, um mich mit dir zu verabreden. Ich will dir abends von den Sommerferien erzählen, von meinen Reisen mit Karin nach Isny im Allgäu, wo ich zehn neue Kapitel meines „Janus“-Romans schrieb, von unseren Tagen im Centovalli, Tessin, vom 95. Geburtstag meiner Tante am Bodensee, von der goldenen Uhr meines Vaters, die mir Gila gab, von meinem Vetter Hans-Jörgen und seiner immer schlimmer werdenden Ehe, und von meinem Bruder Christian… Aber am Telefon meldet sich eine fremde Stimme, ein Mitarbeiter deiner Registratur teilt mir mit, du seiest im Hause unterwegs.

Mittags ruft mich Conny Niebus an und sagt, dass du im Krankenhaus liegst. Ich rufe deine Mutter an, 32 15 44, die alte Nummer auf dem Heiderhof, unverändert seit 41 Jahren, seit ich dich kenne. Deine Mutter sagt mir, wie es um dich steht und wo ich dich finde.

Dienstag, 29.7.

Um 16.45 Uhr besuche ich dich auf der Intensivstation. Die junge, aber sehr erfahrene Schwester ist sehr freundlich zu mir. Ich muss meine Hände desinfizieren. Dann sehe ich dich im Bett liegen, mir stockt der Atem, so zerstört siehst du aus. Mir steigen Tränen in die Augen, ich schaue zu Boden. Die Schwester gibt mir einen Hocker und reicht mir ein Glas Wasser. Dann lässt sie mich allein. Seit Gerdas Sterben weiß ich, dass der Bewusstlose vielleicht im Unterbewusstsein hören kann, was man in seinem Beisein sagt. Ich rede zu dir, erzähle von meiner Reise und schildere, was ich von dir gehört habe. Ich war höchstens fünfzehn Minuten bei dir.

Mittwoch, 30.7.

Später Nachmittag. Ich fahre wieder mit dem Rad zur Klinik. Der Weg durch die sommerliche Stadt ist nicht weit. Du siehst heute besser aus, etwas kräftiger dein Gesicht.

Donnerstag, 31.7.

17.45 Uhr in der Intensivstation bei dir. Das Koma dauert an. Der Versuch, dich mit einem künstlichen Koma („Cooling“) aus dem Koma zu holen, war misslungen. Ich treffe in der Station deine Mutter und deine Schwester. Brigitte wurde nahe gelegt, dein rechtlicher Betreuer zu werden. Sie fürchtet sich vor der Verantwortung und hat Angst, du machst ihr später Vorwürfe, wenn du große Schäden behältst. Sie spricht mit mir, ich ermutige sie.

Montag, 4.8.

Die Ärzte müssen einen einfachen Luftröhrenschnitt vornehmen. Nach der Operation wachst du am Nachmittag aus der Narkose und aus dem Koma auf. Ich besuche dich zu dieser Zeit. Aber du siehst mich nicht richtig, schaust durch mich hindurch, du schaust meistens völlig verwirrt zur Decke. Aber du scheinst zu hören, was ich sage, du reagierst mit heftigem Minenspiel: Fragende Augen (Was sehe ich? Was höre ich?), Mimik des Unverständnisses mit zusammengekniffenen Augen, Ausdruck der Skepsis mit geöffnetem Mund. Kein Sprechversuch. Der wäre auch unmöglich, denn die Luft kommt nicht an die Stimmbänder. —

In den Tagen danach bekommst du eine Lungenentzündung (fast 40°C), die erfolgreich mit Antibiotika überwunden wird; das dauert Tage. Das Fieber flammt am 13.8. noch einmal auf, legt sich dann wieder.

Mittwoch, 5.8.

Wie gestern. Wohler im Gesicht. Die Wunden auf der Stirn verschwinden langsam.

Donnerstag, 7.8.

Ich beobachte einen Sprechversuch bei dir. Die Reaktion auf das, was ich sage, wird heftiger, genauer, bleibt aber im Rahmen der drei mimischen Muster. Du zeigst Ansätze des Lachens. Du wirkst heiter. Dir ist deine Lage noch nicht bewusst. Du bewegst deinen Kopf, aber noch nicht Arme und Hände. Du hast aber immerhin einmal das rechte Bein angezogen. Der Rumpf ist nervös, du liegst unruhig im Bett.

Montag, 11.8.

Verlegung in das Rehabilitations-Zentrum „Godeshöhe“. Beginn der von der Krankenkasse genehmigten Frührehabilitation, offenbar auch aufgrund einer günstigen Prognose des Neurologen im Petrus-Krankenhaus. Der Neurologe hatte noch Ende Juli keine guten Aussichten.

Dienstag, 12.8.

Großer Durchbruch: Du erkennst mich sofort, als ich das Zimmer betrete, und nennst mich bei meinem Namen: „Endlich kommst du, Uli“, sagst du. Die Luftröhre ist wieder frei. Deine Mutter und Schwester erkennst du noch tagelang nicht. Du nennst die Schwestern und Pfleger deine „Galgenvögel“. Ich sage: „Meinst du Aasgeier?“ „Ja“, sagst du. Wir unterhalten uns sehr einfach über die Literatur, die ich in der Schule behandeln werde: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil. Ich weiß nicht genau, ob du genau weißt, wovon ich rede, aber Buchtitel und Namen kommen dir vermutlich vertraut vor. Oft redest du in Floskeln. Aber deine Redemuster sind richtig platziert und spiegeln deine gewohnten Denkmuster. Ich sage, dass meine Unterrichte in der Schule wieder begonnen haben. Du sagst: „Das wurde aber auch Zeit!“ Du siehst mich eine Weile an, aber du kannst den Blick nicht lange halten. Ich bin nicht sicher, ob du mich wirklich siehst. Ich schätze dein Bewusstsein auf ungefähr 50 Prozent. Dein Bewusstsein schwankt. Schnell bist du vom Gespräch ermüdet. Das Schlucken klappt noch nicht, du musst den Schleim weghusten. Das Sprechen strengt dich an. Die Stimme ist etwas leise. Die Aussprache teilweise etwas ungenau, manche Worte verstehe ich deswegen schlecht.

Du zeigst große Gedächtnislücken: Du weißt nicht, wo du wohnst und wo du arbeitest – diese Lücken zeigten sich schon bei deinen mimischen Reaktionen im Petrus-Krankenhaus. Du entwickelst Ausweichstrategien: Auf die Frage, wo du wohnst, sagst du, du hättest schon viele Wohnungen gehabt. Du hast kein Kurzzeitgedächtnis, dir fehlen Worte, Begriffe, die Syntax ist noch sehr einfach, sie besteht aus kleinen Hauptsätzen.

Wir unterhalten uns über klassische Musik. Du sagst, du würdest gerne klassische Musik hören. Ich frage dich: Wer ist dein Lieblingskomponist? Du sagst: Penderecki. Ich erzähle dir, dass ich mit deiner Mutter lange sprach, und du nennst sie eine Quasseltante. Du erwähnst auf einmal Gerda und sagst, du willst nicht sterben wie sie. Ich sage, dein Fall liegt anders, Gerda musste sterben, du wirst gesund. Du reagierst skeptisch. Als ich dir sagte, dass du Schritt für Schritt vorwärts kommst, sagst du: „Uli, du bist ein Arschloch!“

Deine Hände sind umwickelt, damit du nicht die drei Schläuche herausreißt: Durch die Nase wirst du ernährt, ein Schlauch führt in die Blase, ein weiterer Draht misst Puls, Herzkurve und Temperatur. Ich sage: „Es wird immer besser mit dir, du hast jetzt nur noch drei Schläuche.“ Da musst du dich krümmen vor Lachen. Du bewegst Arme und Beine von Tag zu Tag besser. Zwei Physiotherapeuten kommen und richten dich im Bett auf, setzen dich auf die Bettkante – dein Gleichgewichtsorgan funktioniert, und du kannst sekundenlang aufrecht sitzen. Du wirkst die meiste Zeit heiter. Nur dein Drang nach Unabhängigkeit macht dich manchmal gegen Schwestern, Pfleger und das Krankenhaus aggressiv. Du wehrst dich gegen therapeutische Maßnahmen, arbeitest nicht mit. Als ich heute gehe, bist du erschöpft, neigst den Kopf zur Seite. „Ich gehe jetzt“, sage ich, „morgen komme ich wieder.“ „Okay“, antwortest du und schließt die Augen.

Mittwoch, 13.8.

Du redest etwas länger als gestern. Du reflektierst erstmals über deinen Zustand: Ich sage, es geht aufwärts mit dir. Du sagst, es wird stehen bleiben. Ich sage: Du hast Angst davor, aber ich denke, es geht wirklich aufwärts mit dir, weil dein Sprachzentrum funktioniert. Du sprichst etwas genauer und schneller, die Sätze werden etwas länger, aber noch immer bist du schnell erschöpft. Noch mehr als zuletzt in der Intensivstation des Petrus-Krankenhauses und in den letzten Tagen entwickelst du Strategien, um die großen Erinnerungslücken zu vertuschen. Du weißt nicht, wer Karin ist, du erinnerst dich nicht an deinen Zusammenbruch und kaum an die Zeit davor, wo du an der Nordsee Urlaub machtest, du antwortest mit Schweigen oder so, dass dein Gesprächspartner denken soll, du weißt alles. Diese Strategie wird jetzt feiner. Du sprichst mich öfter mit meinem Namen direkt an, das ist ein Fortschritt. Du fixierst mich mit den Augen länger als gestern.

Samstag, 16.8.

Du bist ungefähr so bewusst wie gestern. Aber du schaust mich jetzt fast die ganze Zeit an. Ich sage: „Willst du dich mal im Spiegel sehen?“ „Ja“, sagst du. Aber es gibt hier keinen Handspiegel, auch die Schwester weiß keinen. Ich sage, du kannst dich sehen lassen. Meinst du?, sagst du darauf. Drei Tage später, sagst du mir, dass du im Gesicht dünner geworden bist.

Ich erzähle dir, dass du mich vor Tagen „Arschloch“ genannt hast. Darauf biegst du dich vor Lachen im Bett.

Auf einmal sagst du sehr lebendig: „Uli, hör mal!“ Dann sagst du: „Der Uli war in diesen Räumlichkeiten, aber er war nicht da.“ Das verstand ich erst nicht. Ich sage: „Meinst du mich?“ Du antwortest nicht. Ich sage: „Meinst du dich?“ Du sagst: „Wenn du so willst.“ Ich sage: „Hast du geträumt?“ „Nein“, sagst du, „ich habe nicht geträumt.“ „Redest du in Bildern?“ „Nein“, sagst du. Ich verstand dich nicht. Drei Tage später dachte ich: Du wolltest mir sagen, dass du noch nicht ganz bei Bewusstsein bist. Du hast versucht, über deinen Bewusstseinszustand zu reden. Du konntest nicht „ich“ sagen. Deine Identität war dir nicht bewusst. Die Sprache ist der Ausweis des Denkens.

Am Abend sagt deine Mutter am Telefon nach dem Besuch bei dir, dass du sie und Brigitte immer noch nicht erkannt hast. Sie sind sehr niedergeschlagen.

Dienstag, 19.8.

Heute unterhielten wir uns eine ganze Stunde lang. Dein Kurzzeitgedächtnis ist zwar immer noch fast gleich Null, aber deine Konzentration beim Sprechen ist gewachsen. Du reagierst auch auf fernere Geräusche und optische Reize. Deine Sprache wird komplexer, du bildest Nebensätze, die Aussprache wird noch deutlicher, du bezeichnest dich als Rekonvaleszent.

Du sagst zu mir, du willst an die Nordsee. Ich sage: Nach Otterndorf und Cuxhaven? „Ja“, sagst du, „und nach Friesland und Holland“. Auf einmal sagst du: „Uli, hast du Geld bei dir?“ Ich sage: „Ja.“ Du sagst: „Dann fahren wir an die Nordsee.“ „Uli“, sage ich, „das geht jetzt nicht, du kannst ja noch nicht laufen.“ „Uli!“, sagst du, „natürlich kann ich laufen!“ Das ist paradox: Du erkennst einerseits deine Lage, aber nur partiell; andererseits bist du in einer anderen Realität, du bist noch in der Vergangenheit, als du gesund warst. Dein Bewusstsein ist noch nicht ganz da, ich gebe dir heute 70 Prozent, das ist viel im Vergleich zu den ersten Tagen.

Deine Arm- und Beinbewegungen werden differenzierter. Die Schwester befreit deine Hände von der Schutzumwicklung, sie traut dir jetzt zu, dass du die Schläuche nicht herausreißt. Du streichelst sie dankbar und ein wenig zärtlich zugleich am nackten Arm. Eben noch hattest du gesagt, die Frauen werden immer schlimmer, je älter sie sind, und jetzt bist du fast zärtlich zu der Schwester und sagst, als sie das Zimmer verlassen hat, hier seien ein paar knusprige junge Mäuschen.

Ich sehe, wie du deine Finger bewegst. Du streckst die Arme aus, reckst sie empor, über deinen Kopf, dann faltest du die Hände. Ich sage: „Gib mir mal die Hand!“ Wir drücken uns die Hände. „Du hast aber Kraft!“, sage ich. Du machst wieder die alten Späße und rühmst deine jugendliche Spannkraft, du sagst, du wirst älter als ich, mindestens 89 willst du werden. Die Koordination deiner Bewegungen wird immer besser, außen und innen. Deine Seele gesundet am Körper, dein Körper an der Seele. Ein dialektischer Prozess.

Gestern haben dich die Pfleger in den Rollstuhl gesetzt, du hast vorher sogar eine Weile aufrecht gestanden!, sagte mir deine Mutter. Brigitte erzählte mir am Abend, wie du dich gegen den Pfleger durchgesetzt hast, als er dich im Rollstuhl auf den Flur fuhr. „Ich muss scheißen!“, sagtest du. Du wolltest nicht in die Pampers scheißen. Dein Schamgefühl kehrt zurück.

Ich rede von Brigitte, du sagst: „Püppi!“ Ich erzähle von deiner Mutter, „Muttchen“ sagst du, und ich spüre, du bekommst jetzt wieder eine deutlichere Ahnung von ihr, morgen oder übermorgen wirst du sie erkennen und anreden. Ich erzähle von meinem Freund Walter Ptok, der Psychotherapeut am Landeskrankenhaus war. Du sagst: „Der Walter Ptok…“ „Ja?“, sage ich. „Der kann mal zu mir kommen.“ „Ich sage es ihm“, sage ich. „Sollen dich Theo und Conny auch besuchen?“, frage ich. „Ja“, sagst du, ein wenig später ergänzt du: „Aber das muss nicht sein.“ Ich sage: „Kommt deine Registratur auch ohne dich klar?“ „Natürlich!“, sagst du. Ich spüre, langsam kommt die Erinnerung an deine Arbeitsstelle zurück. Noch sind diese Begriffe undurchschaubare Vergangenheitsnebel, aber du bist nicht mehr so befremdet, wenn du sie hörst. Vorhin hast du „ich“ gesagt, du gewinnst deine Identität zurück.

Du bist heute nicht so erschöpft vom Reden. Ich verabschiede mich und winke dir von der Tür zu, aber so weit siehst du nicht, das merke ich. Langsam willst du in die Welt zurück. Heute merkst du nur halb deine Wiedergeburt, aber morgen, übermorgen, überübermorgen wirst du dich wiederfinden.

Freitag, 22.8.

Als ich die Zimmertür öffne, ist es dunkel, die Rollläden sind unten, vor deinem Bett liegt eine Schaumgummi-Matratze. Ich trete näher, gewöhne mich an die Zimmerdämmerung und spüre, du bist wach. „Hallo, Uli!“, sage ich und schiebe mit dem Fuß die Matratze weg. „Hallo, Uli!“, antwortest du. „Wie geht es dir?“ „Besser“, sagst du und richtest dich im Bett auf, rutschst ans Bettende und lässt in der Lücke des Bettgeländers die Beine zum Boden baumeln. Ich denke schon, du willst aus dem Bett aussteigen, aber du bleibst sitzen. Ein Pfleger kommt ins Zimmer, zieht die Rollläden hoch, es wird hell. Er sagt, bei dem Versuch, das Bett zu verlassen, seiest du zu Boden gefallen, daher die Schaumgummimatratze. Die Magensonde ist entfernt, deine Nase frei. Lauter als vor drei Tagen deine Stimme, deine Worte klarer. Du bemühst dich mit einigem Erfolg, elaboriert zu sprechen, schilderst dein Gefühl, dass du Fortschritte machst, dann auch deine Sorge, die Gesundung könnte stagnieren. Deine Laune ist gut. Du sprichst jetzt von deiner Mutter und von Brigitte anders, ich habe das Gefühl, dass du sie jetzt erkennst. Ich frage dich, ob Conny und Theo zu Besuch waren. „Ja“, sagst du, „Conny war zwei Mal bei mir.“ Als ich die DFG erwähne, gehst du darauf ein und ich habe den Eindruck, du weißt zum ersten Mal, dass deine Arbeitsstelle gemeint ist – wahrscheinlich noch nicht im vollen Umfang, denn du drückst dich um Details herum und antwortest noch zu allgemein. Als ich dich frage, ob dir die Arbeit fehlt, lachst du leise. Ich sage: „Dein Gedächtnis kehrt langsam zurück. Gib zu, du hast deine Erinnerungslücken vor einigen Tagen noch abgestritten.“ „Ja, das stimmt“, sagst du. Ich sage: „Dein Bewusstsein ist noch nicht ganz da, und es schwankt manchmal.“ Du stimmst mir wieder zu: „Natürlich!“ An der Tafel über dem Bett steht eine Nachricht an die Angehörigen: „Brille mitbringen.“ „Hast du deine Brille hier?“, frage ich. „Ja.“ Du findest sie aber nicht und kannst mir nicht sagen, wo sie liegt. Da sehe ich die Brille auf dem Nachttisch. Ich setze sie dir auf.

Dann betritt deine Mutter den Raum. Du hast sie gestern erkannt, sagt sie mir. Die Brille hilft nicht. Du sagst, du brauchst eine stärkere Brille, 3,5 Dioptrien plus. Aber ich merke, dass deine Augen noch gar nicht sehen können, dass es nicht an der Brille liegt. Du erkennst offenbar nur Umrisse, du erkennst uns alle eigentlich nur an der Stimme.

Während der Pfleger dich auf den Rollstuhl setzt, gibt mir deine Mutter den 8 Seiten langen Fragebogen, den ich ausfüllen soll. Ich soll für die Sprechtherapeutin aufschreiben, wie du lebst, wie du denkst, was du liest, was du machst, wofür du dich interessierst.

Der Pfleger rollt dich auf den Flur an ein Fenster mit zwei Stühlen. Dort gibt dir deine Mutter eine Illustrierte, SCHÖNER WOHNEN. Die Zeitschrift liegt falsch herum auf deinem Tablett, du versuchst zu lesen und merkst trotz der großen Bilder auf den Seiten nicht, dass die Zeitschrift falsch herum liegt. Das Blättern gelingt dir noch nicht. Du gibst den Leseversuch auf und konstatierst, dass das Sehen grundsätzlich noch nicht klappt. Der Ergotherapeutiker kommt zu dir und will dir zu essen und zu trinken geben, aber du lehnst energisch ab. Du behauptest, du hättest heute schon drei Mal etwas gegessen, zwei Mal habe dir Frau Schade Essen gebracht, die Logopädin, die zufällig vorbeikommt. Sie widerspricht der Behauptung. Den Orangensaft lehnst du auch ab und verlangst Kaffee. Das Essen schmeckt dir nicht, du willst keinen Brei mehr, sondern Fleisch und feste Nahrung überhaupt. Nach dem Kaffee sagst du immer wieder laut: „Und jetzt will ich schlafen!“ Ich gehe zum Stationszimmer und teile einem der Pfleger deinen Wunsch mit. In einem längeren Gespräch erklärt er mir, dass du Bewegung brauchst, dass der Kreislauf nicht absacken darf, dass du wieder den Tag-und-Nacht-Rhythmus erlernen musst. In dem Maße, wie sich der Körper erholt, stabilisiert sich auch die Psyche, und damit geht auch die Wiederherstellung des Gedächtnisses einher. Das Verlangen nach Schlaf ist eine unbewusste Flucht, schon gestern sagtest du diese Standardsätze. Das Akzeptieren der Ernährung sei wichtig, meint der Pfleger. Der für die Schlucktherapie zuständige Arzt bestätigte, dass das Schlucken unbeeinträchtigt wieder funktioniert. Das Tempo der Genesung gebe zu guten Hoffnungen Anlass. Du befindest dich noch in einem Zustand großer Verwirrung. Zwar seien deine Reaktionen im Bereich des Langzeitgedächtnisses schon gut, jedoch hapere es noch sehr mit dem Kurzzeitgedächtnis. Das ist auch meine Beobachtung. Erst seit heute merke ich, dass du dich an Ereignisse des gleichen Tages erinnern kannst, etwa an Connys Besuch. Auch die Zeitvorstellung wird genauer, ist aber noch unsicher und manchmal falsch. Du leidest noch an einem Durchgangssyndrom. Viel Zeit und Geduld erfordere die weitere Genesung. Definitiv könne jetzt noch nichts Endgültiges erkannt oder prognostiziert werden.

Samstag, 24.8.

Ich schreibe für die Rehabilitationsklinik die Notizen über Ulrich Blendinger:

Typischer Tagesablauf: 8-16.30 Dienst in der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) als Leiter der Registratur. 16.30-17.45 zu Hause. Ab 18.00 Einkaufen in Bad Godesberg; eventuell Treffen mit Freunden oder Bekannten. Abends zu Hause: Lesen, Musik hören (Radio, CD), kaum Fernsehen. Gegen Mitternacht zu Bett.

Wochenende: In Bonn. Besuch bei der Mutter auf dem Heiderhof oder bei der Schwester und den Neffen in Oberwinter. Treffen mit Bekannten oder einer Freundin.

Interessen: Kunst. Zeichnen. Sammeln von Bildern, vor allem Bücher von Horst Janssen. Segeln. Lesen. Klassische Musik hören.

Sport: Nein. (Nur manchmal etwas Radfahren.) Auch kein passives Interesse am Sport.

Musik: Klassische Musik von der Renaissance/Barockzeit bis zu unserer Gegenwart, etwa Penderecki. Opern, Sinfonien, Kammermusik, Lieder etc. Auch Jazz, Fado, Tango etc.

Lesen: SPIEGEL. Unregelmäßig: FAZ, Bonner General-Anzeiger, andere anspruchsvolle Zeitungen, Zeitschriften und  Illustrierte. Romane. Philosophie. Politik und Geschichte. Kunst. Autoren: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Martin Heidegger: Sein und Zeit.

Fernsehen: Fast nie. Allenfalls ARD: Tagesthemen, arte.

Kino: Nein.

Stars: Entfällt.

Länder und Landschaften: Niederlande! Belgien, England, Norddeutschland, Nordseeküste, Nordseeinseln, Texel, Cuxhaven, Bremerhaven, Hamburg.

Geselligkeit: Zusammensein mit einer Bekannten oder einem Freund, anderen Bekannten und mit der Familie. Gern allein!

Gesprächsthemen: Zeitströmungen/Zeitgeist, politische Situation, Generationenkonflikt, Wirtschaftsprobleme, Weltlage, das Alter und Altwerden, Verhalten und Eigenarten junger Leute, lebensphilosophische Fragen, künstlerische Fragen (Literatur, Kunst, Musik), berufliche Probleme (DFG), familiäre Dinge, Norddeutschland und Nordsee.

Entspannung: Eisdiele. Essen gehen. Zu Hause lesen und Wein trinken. Radio hören. Ans Meer fahren.

Lieblingsfarben: Alle! Liebe zur Kunst und allen Farbmöglichkeiten.

Kleidung: Stoffhose und Jeans, Lederschuhe (Halbschuhe), Hemd und Jackett.

Idole: Nein.

Auto: Kein Auto seit Jahren. Früher VW und Mercedes.

Tiere: Nein.

Handwerkliche Tätigkeiten: Nur Zeichnen, in letzter Zeit weniger

Wohnung: Ca. 45 Quadratmeter im Parterre. Großes Wohnzimmer mit kleiner Terrasse am Garten des Mietshauses in der Riemenschneiderstraße in Godesberg, ruhige Lage. Stilvolle Einrichtung mit Bett, Tisch, Sitzecke, vielen schön gerahmten Bildern an den Wänden, Bücherregalen. Kleine Küche, Flur mit Bad.

Getränke: Erlesene Weine. Mineralwasser, Säfte, Bier. Kein Schnaps.

Speisen: Gourmetspeisen und einfache Kost – alles, was gut zubereitet ist. Kein Fastfood.

Genussmittel: Wein. Schokolade, Süßigkeiten. Vor einigen Jahren auch Zigaretten.

Eigenschaften: Angekreuzt: Heiter, ruhig, anpassungsfähig, ernst, eigenwillig, aktiv. Außerdem: Gebildet, sehr kultiviert, intellektuell und ästhetisch orientiert, bescheiden, aufs Wesentliche konzentriert, stiller Genießer, liebt Frauenkontakte, treu, realistisch, humorvoll, hilfsbereit, zuverlässig, kann gut zuhören, extrem auf Unabhängigkeit bedacht, individualistisch, beredt, schreibfaul, liebt das Alleinsein, liebt Essen und gepflegte Weine, konsequent, ehrlich, gutmütig.

Dienstag, 26.8.

Stagnation.

Langsam frage ich mich: Bilde ich mir die Besserung meines Freundes nur ein? Ja und nein.  Ich halte ihm eine fett gedruckte Schlagzeile vor die Augen: KRAUSE IST KRAUSE. Er liest zwei Buchstaben richtig, den dritten falsch, kann kein Wort zusammensetzen. Er schiebt die Zeitschrift weg. Das Einmaleins klappt auch nicht. Er ist nicht blind, nicht im optischen Sinn, aber sein Gehirn sieht nicht, was die Augen sehen. Ich sage: Mach mich nach! und ich grinse ihn an. Er zieht den Mund breit und grinst zurück. Minuten später sieht er die eigene Hand beim Greifen nicht. Beim Essen kann er kleinste Teile vom Tellerrand mit den Fingern auf den Löffel schieben, aber beim Trinken greift er nach dem Turnschuh, den ich auf dem Tisch abgestellt hatte, und will ihn zum Mund führen. Ich werde immer unsicherer. Es schwankt alles. Mal ist er heiter und wirkt vital, mal niedergedrückt und schweigsam. So geht es Tage und Wochen.

Als ich Ende September von Rom zurückkehre, wo ich mit meinen Schülern war, fragt er: „Hast du Stefano Rotondo“ gesehen?“ „Ja“, sage ich. Ich bin erstaunt, dass er weiß, dass ich seit vielen Jahren diese alte Kirche sehen wollte. Aber er spricht undeutlicher als vor zwei Wochen. Er kann immer noch nicht sehen, er ist sehenden Auges blind. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Der Kopf ist gesenkt. Der ganze Körper friert und hängt schief im Rollstuhl. Er isst kaum noch und trinkt zuwenig, trocknet aus. „Uli, ich kann nicht mehr“, sagt er Tage später, „es reicht nicht mehr.“ Einige Tage später: „Ich mach nicht mehr lange.“ Ich kann es ihm nicht ausreden.

Immer ausdrucksloser wird sein Blick, er schaut blind in die Welt, er sieht durch alles hindurch, er sieht weder mich noch den Raum. Er hat kein Raumgefühl, kein Zeitgefühl, kaum eine Erinnerung. Er verwechselt immer auffälliger Realität und Traum oder Wunsch. Er redet immer weniger, wirkt immer trauriger.

Zwei Gehirnschläge löschen letzten Lebenswillen. Eine Lungenentzündung Anfang November. Luftröhrenschnitt. Dann viel Schlaf, viel Dösen. Er bemerkt mich kaum noch oder nicht mehr, wenn ich komme. Ich rede und erzähle ihm, was ich erlebe. Er reagiert nicht, er bewegt sich nicht, starrt vom Bett richtungslos ins Zimmer, im Fahrstuhl auf den Boden. Ich spüre, er hört jedes Wort. Drei Tage vor seinem Tod bewegt er die Lippen und spricht tonlos zwei Sätze – ich verstehe kein Wort, aber ich weiß, es ist ein Abschied. Ich begann dieses Tagebuch in der Hoffnung, beinahe mit der Gewissheit, dass er es später lesen wird, nun schreibe ich es nur zur Erinnerung an ihn zu Ende. Ich übergehe viele Details des Niedergangs, ich mache es kurz, denn der Sterbende ist immer weniger der, der er früher war. Bei seiner anfänglichen Genesung schimmerte sein Wesen noch kraftvoll auf, jetzt entfremdet er sich uns und sich selbst.

Schon seit Wochen wünsche ich ihm einen schnellen Tod, denn sein Leben ist kein Leben mehr. Die Hölle ist besser als dieser Zustand, denke ich. Es ist ein erlebter Tod, ein schmerzendes Bewusstsein, das nur noch in sich selbst kreist.

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.

 

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.