Luft ist das Wasser, das Zeros, das Albino, atmet. Er schwebt an der Nabelschnur über seiner Mutter und lässt sich den Wind um die Ohren wehen.
Während seine Zwillingsschwester Rhina sich bereits in einem Tümpel mit kühlem Schlamm erfrischt, nimmt Zeros das Leben leicht. So leicht, dass seine 58 Kilo einfach nicht auf den Boden plumpsen wollen. Er schwebt wie ein Fesselballon im Wind.
Seine Mutter Norma zwinkert mit den kleinem Augen, richtet ihre grossen, ausrichtbaren Ohren aus. Als fürsorgliche Mutter will sie ihren Sohn zu sich heranziehen und ihn mit Milch füttern.
»Hoppala, das kitzelt!«, ruft Zeros, als seine Mutter an der Nabelschnur zieht und schüttelt sich vor Lachen. Seine Haut ist durch Falten in einzelne Bereiche unterteilt, die wie Teile einer Panzerung wirken. Beim Lachen wackelt er so, dass sich der Panzer ständig verschiebt.
Als seine Mutter Norma sieht, dass dies ihrem Kind Spass bereitet, wickelt sie die Nabelschnur um ihr Horn. Geschwächt durch die Geburt hat sie nicht die Kraft ihren Luftikus herunter zu ziehen.
»Brauchst Du Hilfe? «, erkundigt sich Kalinda, das hilfsbereite Kranichmädchen,
Norma zwinkert dankbar mit den kleinen Augen. Kalinda greift die Nabelschnur und gemeinsam versuchen sie Zeros auf den Boden zu ziehen.
»Chiik…«, kreischt Kalinda als sich ihr rechter Fuss in der Schnur verheddert. Vor Schreckt lässt Norma los. Langsam beginnen sie zu schweben… höher und höher…
Ein Schatten legt sich über das junge Panzernashorn. Zweige schlingen sich um seinen Kopf, mit seinem Horn stösst es in einen Ast und prallt gegen den Stamm. Der nietenartige Hornbuckel mindert den Aufprall.
»Unverschämtheit! Wer stört mich bei meinem Mittagsschlaf?«, mault Joschka, der alte Affe. Richtet sich auf und trommelt sich ärgerlich mit den Fäusten auf den Brustkorb. Mit seinem langen Schwanz bricht er einen Zweig ab, um ihn als Knüppel gegen die Eindringlinge zu gebrauchen.
»Tschu… Tschu… Tschulligung!«, ruft Zeros, als hätte er eine verstopfte Nase. Er stemmt sich mit seinen Beinen gegen den Mangrovenbaum und versucht sich vom Baumstamm loszumachen.
»Gehst du wohl sofort wieder von meinem Baum herunter!«, kreischt Joschka und klopft mit dem Ast gegen den Stamm.
»Vers… Vers… Versuch‘ ich doch!«, brummelt Zeros und zerrt am Baumstamm.
»Am besten, ich breche dir das Horn aus der Nase«, schlägt der Affe vor, hebt den Ast über den Kopf und will zuschlagen.
»Chiik, das wirst du gefälligst sein lassen…«, zickt Kalinda, flattert aufgeregt mit den Flügeln und versucht weiterhin sich aus der Schlinge zu befreien, »Wir Tiere müssen zusammenhalten, sonst rotten uns die Jäger noch alle aus.«
»Schakalack! War ja nur so eine Idee«, mault Joschka. Er mag es nicht, wenn man ihm Vorschriften macht.
»Hoppala, das kitzelt!«, ruft Zeros als ihm Kalinda mit den flauschigen Flügelfedern über den Panzer streicht. Dabei ruckelt sich sein Horn aus dem Ast.
»Ich falle nach oben«, lacht Zeros erstaunt darüber, dass er so aus der Art geschlagen ist. Reaktionsschnell hält er sich an einer Astgabel fest und stützt sich mit den Vorderbeinen auf die Äste des weitläufigen Baumes.
»Nichts abreissen!«, ist Joschka um seine Mangrove besorgt. Er ist auf diesem Baum aufgewachsen und mag nicht, wenn jemand auf den stelzenartigen Luftwurzeln oder den spargelartigen Atemwurzeln herumtrampelt, weil bei manchen Wurzeln die Samen schon in der Frucht keimen.
»Chiik, dann musst Du helfen!«, ruft Kalinda. Ihr schmerzt so sehr der Fuss, dass sie mit dem Schnabel auf die Nabelschnur pickt.
Die alte Affe sieht, dass sich hier nichts mehr enttucken lässt. Er nimmt den Knüppel, holt aus und schlägt die Nabelschnur genau an der Stelle durch, auf die Kalinda bereits eingehakt hat.
»Danke. Und wie helfen wir unserem kleinen Freund weiter?«, erkundigt sich Kalinda als sie die Fessel abstreift.
»Du setzt dich auf seine Schultern und ich ziehe an seinen Füssen!«, neigt der alte Affe zu einfachen Lösungen.
Aber so sehr sie sich auch bemühen, Zeros bleibt ein Luftikus.
»Ich will auch…«, brummelt Zeros und sein Magen grummelt mit. Neidisch schaut er auf seine Schwester, die von der Mutter mit einer weissen Flüssigkeit gefüttert wird. Auch er möchte diese Milch trinken, aber er kann sich nicht nach unten bewegen und sich auf den Boden plumpsen lassen. Das ärgert ihn langsam.
»Dann muss ich uns etwas besorgen«, macht sich Kalinda auf den Weg und organisiert eine abwechslungsreiche Kost aus Blüten, Samen und Beeren. Für sich bringt sie Heuschrecken und Käfer mit.
»Möchtest du eine Banane?«, erkundigt sich Joschka bei Zeros. Das Nashorn sieht neugierig dabei zu, wie der Affe die Frucht von einer Staude bricht, sie sorgsam schält, und mit einem verzückten Grinsen hineinbeisst.
»Ist das Milch am Stück?«, befragt Zeros das Angebot. Wie seine Schwester Rhina, ist Zeros ein Vegetarier. Besonders gern isst er die hohen, schilfartige Gräser, garniert mit Kräutern und Bambus. Um Wasserpflanzen zu erreichen, müsste er so oft komplett untertauchen wie seine Schwester. Zeros hat zuerst Angst um seine Schwester, dann beneidet er sie. Zu gern würde er von ihr Schwimmen lernen.
»Wollt ihr etwa in meinem Baum wohnen bleiben?«, forscht Joschka bei seinen Gästen nach, als Kalinda mit den Leckerbissen landet.
»Du kennst das alte Sprichwort: Wenn du etwas was du sicher hast, aufgibst
für etwas, das unsicher ist, dann ist das, was sicher war, nicht mehr sicher und was unsicher war, war schon vorher verloren«, besteht Kalinda auf Gastrecht.
»Lass niemanden, der vom Schicksal geschlagen ist, in faule Selbstzufriedenheit versinken«, erwidert Joschka, kratzt sich am Hinterkopf und gewährt seinem Besucht das heilige Gastrecht.
Zeros und Kalinda bleiben nicht nur eine Nacht. Nicht nur eine Woche. Sie bleiben einen Monat. Joschka wird langsam sauer, weil das Nashorn die Blätter von seinem Baum verspeist und die Deckung dadurch immer schlechter wird. Er fragt sich, wie er seine ungebetenen Gäste loswerden kann.
Zeros sieht Rhina neidisch dabei zu, wie sie im Wasser und planscht, vor allem im tiefen Schlamm suhlen, aus denen oft nur noch ihr Horn und die Ohren herausragt. Auf diese Weise ist Rhina vor Parasiten geschützt und entlastet durch den Auftrieb des Wassers ihre Gelenke.
Rhina spielt gern stundenlang mit ihrer Mutter Norma. Dabei wedelt sie mit dem Schwanz und die Ohren flattern wie Propeller. Dabei stellt sie fest, dass sie nicht so hoch fliegen kann wie ihr Bruder und beneidet ihn darum.
Bei Vollmond werden sie von einem lauten Knall geweckt. Zeros glaubt, der Krach sei ein Gewitter, doch er wird von Kalinda eines besseren belehrt:
»Chiik, der Jäger stiehlt deiner Mutter das Horn!«, weckt Kalinda die Gefährten. Die Menschen glauben, dass das Horn der Panzernashörner ihnen Zauberkraft verleiht, deshalb betäuben sie Nashörner und sägen es ab.
»Deine Mutter ist betäubt. Der Jäger hat ihr das Nashorn abgesägt«, kommentiert Joschka resigniert.
»Aber ich muss meine Schwester Rhina retten«, beharrt Zeros.
»Gegen die Jäger hast du keine Chance!«, resigniert Joschka.
Rhina ist im See untergetaucht. Sie kann die Luft lange anhalten. Aber irgendwann wird sie wieder auftauchen müssen um zu atmen. Der Jäger steht mit einem Gewehr am Ufer und wartet.
»Ich werde sie angreifen!«
»Niemand hat es bisher gewagt, die Menschen anzugreifen«, ist Kalinda über den Mut von Zeros erschrocken,
»Deshalb wird es funktionieren!«
Sie haben keine Zeit, um sich einen Plan zu überlegen. Zeros lässt den Ast los. Joschka hält sich an den Füssen des Nashorns fest. Kalinda setzt sich auf seine Schultern und steuert die Richtung mit den Flügeln.
Sie fliegen auf den Rücken den Jägers zu. Der sieht sie im Spiegel des Wasser auf sich zukommen. Erschrickt, noch nie hat es ein fliegendes Nashorn gesehen. Ängstlich lässt er sein Gewehr ins Wasser fallen und läuft fort.
Rhina und ihre Ohren flattern wie Propeller, als sie auftaucht und ihren Bruder sieht. Sie lächelt, als auch ihre Mutter aus der Betäubung erwacht.
»Ich mag hier nicht länger bleiben«, quengelt das Nashorn traurig.
»Kommt doch mit in die Mongolei und wir besuchen dort Yussuf, das Yak«, schlägt Kalinda vor.
»Ein Yak?«
»Yussuf, das Yak, wird wegen seines Grunzens auch Grunzochse genannt.«
»Worauf warten wir noch?«, erkundigt sich Zeros, lässt sich in den Wind fallen und treiben. Joschka, Rhina und Norma winken ihnen nach. Kalinda setzt sich auf seine Schultern und steuert ihre Richtung mit den Flügeln.
Sie verlassen das Grasland mit den Sümpfen, fliegen über das Dorf Gandruk hinweg, das am Steilhang des Annapurna-Massivs liegt, auf eine Hochgebirgslandschaft mit schneebedeckten Bergen zu.
»Was sind das gezackte Steine, dort, ganz weit hinten?«
»Das sind die schneebedeckten Gipfel des Himalaja!«
Zeros und Kalinda überqueren die kahlen Gebirgstäler und felsenreiche Hochweiden des Himalaja–Gebirges. Die Luft wird immer dünner. Mit einem Mal fühlt Zeros eine Schwere, die er bisher vermisst hat. Er weist auf den höchsten Berg.
»Dort möchte ich landen!«, ruft Zeros seiner erstaunten Begleiterin zu.
Auf dem Mount Everest, wo die Luft so dünn ist, dass er sein Gewicht spüren kann,
berührt Zeros, das Nashorn, zum ersten Mal die Erde. Er reisst mit seinem Horn die Eisschicht auf und suhlt sich im Schnee, so wie er das bei seiner Schwester Rhina im Schlamm immer neidvoll beobachtet hat. Weisser Schlamm, der erfrischt.
»Chick-a-dee-dee-dee, Sturm kommt auf, wir müssen weiter!«, mahnt Kalinda.
»Hier bin ich zuhause«, jauchzt Zeros, das Nashorn, fröhlich und verschwindet im Schneegestöber.
***
Nashörner sind Zeitgenossen der Dinosaurier und haben sie überlebt. Fossilen Funden zufolge existierten über die Jahrmillionen möglicherweise 170 verschiedene Nashorn–Species. Das Nashorn kann damit als ein besser gelungener Teil der Schöpfung betrachtet werden. Von seinen entwicklungsgeschichtlichen Verwandten leben heute nur noch der Tapir und das Pferd.
Mit dieser, in Prosa verfassten Erzählung greift A.J. Weigoni auf das Genre der Tierfabel zurück, die durch Jean de La Fontaine zur Blüte gebracht wurde. Der Franzose La Fontaine ersetzt die allzu belehrenden Fabeln und die damit verloren gegangene Einfalt und Natürlichkeit durch geistigen Witz und spielerische Anmut.
Zeros, das weisse Panzernashorn, ist von Geburt an behindert. Das Albino nimmt das Leben so leicht, dass er nach der Geburt an der Nabelschnur über seiner Mutter wie Fesselballon im Wind schwebt. Von oben betrachtet erscheint ihm die Welt als etwas wunderbar Leichtes. Bis die Jäger kommen und sich die Freundschaft zum Kranichmädchen Kalinda bewährt…