Aufklärung

 

Die beiden begegnen ihm zum ersten Mal an diesem Nachmittag, als er nach Hause kommt. Sie rollt auf ihren kleinen Roller einige Meter vor ihm, und plappert unaufhörlich, er trägt ihr zweites Paar Schuhe, hat eine Selbstgedrehte auf dem Zahn und schaut ganz selbstzufrieden in die Landschaft, antwortet meistens mit einem abwesenden Ja oder hmm. Modell alleinerziehender Vater, denkt Herr Nipp, macht sich aber ansonsten keine weiteren Gedanken über die beiden. Erst als sie nach zwanzig Minuten zurückkommen, bekommen sie die Beachtung, die ihnen gebührt.

Herr Nipp zupft gerade einiges an Unkraut weg, das die schönen Blumen des Vorgartens überwuchert, vorwiegend Ackerwinden. Diese schamlos frechen nutzen die anderen Pflanzen als Kletter- hilfe, umwickeln diese, um selber effektiv ans Sonnenlicht zu kommen, ohne viel Biomasse aufbauen zu müssen. Ja, die Blüten mit ihrem zartrosaweißen Kreistrichter sind wunderschön, aber dazu darf man es erst gar nicht kommen lassen. Unkraut ist Unkraut, es reicht schließlich, dass man sich daran gewöhnt hat, dass inzwischen sogar Pippau als schönes Wildkraut in Fach- geschäften angeboten wird. Neben Giersch und Ackerschachtelhalm eines der vom Kleingärtner gefürchtetsten Unkräuter überhaupt, denn jedes im Acker gebliebene Rizömchen wird unnachgiebig Nachkommen produzieren und den gesamten Garten binnen weniger Jahre grundlegend vernichten, jedes zarte Pflänzchen verdrängen, das so sehr mit Zärtlichkeit und Ausdauer gepflegt wird. Sorgfältig musste Herr Nipp vorgehen, kein anderes Geschöpf sollte in Mitleidenschaft gezogen werden, abgesehen von den allesvernichtenden Schnecken vielleicht, denen er immer in Genugtuung mit der Gartenschere den Kopf vom schleimigen Rumpf trennte, sobald auch nur eine ihre Fühler in den Wind streckte.

Auf dem offensichtlichen Rückweg ging der Vater nun vor ihr her, sie schien etwas müder als vorher und hatte etwas besonderes entdeckt:

„Kriegen die Blumen eigentlich von den Bienen Honig?“

Der Man schmunzelt, zieht an seiner frischen Zigarette und antwortet:

„Nein, die Bienen kriegen von den Blüten ihren Honig.“
„Warum das denn?“
„Damit die Pflanzen wachsen können.“
„Wie können die denn wachsen, wenn die Bienen etwas weg-

saugen?“
Gierig zog der Vater überlegend an seiner Zigarette. Denkpause. „Das weiß ich auch nicht.“
Im Vorgartenbeet kniend denkt Herr Nipp, dass der Vater genau

diese Gelegenheit hätte nutzen sollen, die alte Biene und Blüte Thematik mit einer guten Antwort aus dem Weg des gegenseitigen Verstehens zu räumen. Nie wieder hätte er dem Kind etwas über Aufklärung erklären müssen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421