Corvinus Presse

 

Liljana Dirjans von Sabine Fahl übertragener Lyrikband Schwere Seide (2000) war bei Erscheinen der einzige zeitgenössische mazedonische Lyrikband in deutscher Übersetzung: ein Glück, daß wir ihn haben. Schwere Seide ist ein in jeder Beziehung schönes Buch. Ich kann es nicht oft genug betonen: Natürlich ist das Gedicht selbst das Wesentliche am bzw. im Gedichtbuch, aber wenn die Verpackung so gelungen ist wie bei den meisten dieser in limitierter Auflage erscheinenden Bücher der Berliner Corvinus Presse, gewinnt das ganze lyrische Projekt, und der bibliophil orientierte Sammler schnalzt mit der Zunge. Doppeltes Kompliment also für Verleger und Buchkünstler Hendrik Liersch: Auch nach 2000 produziert dieser Lyrikliebhaber ein schönes Buch nach dem anderen. Ein rundes, dunkelbraunes, in den Umschlag genähtes Seidenfenster blickt mich aus Schwere Seide wie ein Dichterauge an, und wenn ich in diesem japanisch gebundenen und bleigesetzten Blockbuch blättere, gewahre ich Gedichte, in die ich mich sogleich versenke. Ich sage ja gern schon einmal, daß mir als lyrischem Trinker jeder Wein schmeckt, aber es ist natürlich stets eine feine Freude, auf einen besonders edlen Tropfen zu stoßen. Liljana Dirjan verfügt über eine lyrische Stimme, die so klar ist wie das Meer überall sein sollte, unweit dessen sie lebt. Dabei tauchen unvermittelt Metaphern auf wie kleine unbewohnte Inseln. Anschaulichkeit, Empfindung, Natürlichkeit, Sinnlichkeit sind Begriffe, die mir in den Sinn kommen, während ich diese Gedichte genieße. Renate Jurisch, Hautnah (1998), Ingo Cesaro, Das Meer ist nicht blau (1999), Gisela Gülpen, 11 Haiku (2000) mit 300 ausgewählten Dreizeilern aus 30 Jahren oder Henryk Bereska (1926-2005), Berliner Spätlese (zweite, starkerweiterte Auflage 2000) sind weitere Beispiele für das charakteristische Profil der Corvinus Presse. Ein wahrhaft einmaliges Buchobjekt ist Ingo Cesaros Schon wieder verschnupft (2003). Hier sind die bleigesetzten Haiku ohne Farbe in 10 Papiertaschentücher gedruckt, die als Buch gebunden sind. Ein Schmankerl in meiner Sammlung. Vom 4. August bis 20. September 2003 präsentierte die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin die ersten 120 Corvinus-Bücher, zu denen auch die von Adelheid Johanna Hess gehören. Die mit Wörtern knausernden Gedichte in Sturz voraus (1999) beeindrucken mich ebenso wie die sehr genau strukturierten Verse der früheren Bände Wortstau (1992) oder Träume laden ein (1997):

Lesen

Ahnungen
Nehmen
Mich
Entfachen
Stürme
Ozeanische
Schaumkronen
Entnageln
Das Ende
Der Welt

und

Schreiben

Worte
Winden
Sich
Treffen
Mich
Stürzen
Ab
Fallen
Ins Grab
Der Seiten

Ich darf getrost von einem Lebenswerk für einen Einmannverlag sprechen, den Hendrik Liersch am 11. April 1990 gründete. Seitdem hat der passionierte VauO-Stomps-Verehrer beharrlich daran gearbeitet, Autorinnen und Autoren in und mit seinen stets schön gestalteten Büchern ein Forum zu bieten. Zu den mittlerweile etwa 70 Büchern, die ich in meiner Sammlung aus der Corvinus Presse habe, sind diese beiden noch hinzugekommen: Peter Wills mit eigenen Linolschnitten angereicherter Titel Skalitzer – Eisenbahn – Admiral, der mit Gedichten aus den Jahren 1986 bis 2002 ein lyrisches Panorama von Berlin-Kreuzberg entwirft, sowie das japanisch gebundene Blockbuch Falkner, bis Grün dich durchwächst von Ute Eckenfelder mit zwei Linolschnitten von Litsa Spathi. Ich bin weiterhin süchtig nach Büchern aus der Corvinus Presse. Dabei ist es natürlich nicht nur die buchkünstlerische Gestaltung, die mich anzieht, sondern in erster Linie die lyrische Überraschung, die mich beim Öffnen des Buches erwartet. Von der 1938 geborenen und in Berlin lebenden Ute Eckenfelder hatte ich bis dato noch nichts gelesen. Sie wartet mit wind- und wettergegerbten Gedichten auf, die unsere Sehnsüchte aufwühlen:

Heu fehlt, Geruch von Heu
in dem die Seele,
der halbflügge
Vogel, ausatmen könnte,

wie auf alten Bildern Tote ihre Seelen.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.