Avant-Garage

Alles Groteske dieser Welt

Manchmal wundert man sich, warum eine Band in eine Schublade gelegt wird. Als ich Pere Ubu 1978 das erste Mal im Ratinger Hof sah, lief das unter Punk-Konzert. Auf der Website der Band bezeichnet sie sich selbst schlicht als Rockband. Wäre da nicht der Name. In der französischen Theatergeschichte ist Ubu roi, dem Stück von Alfred Jarry. Bei einer Band aus Cleveland unterstreicht dieser Name den künstlerischen Anspruch, so kombiniert Pere Ubu experimentellen Rock mit Elementen aus Musique concrète und Free Jazz. Und beim Wiederhören des hervorragend compilierten CD-Box-Sets Datapanik in the Year Zero fällt auf, dass David Thomas ein Blues-Sänger auf einer Stufe mit Captain Beefheart und Tom Waits befindet.

Die Scene in Cleveland bestätigt eine These aus Hamburg „Jeder ist Solist“ und „Jeder spielt mit Jedem“.

Im Jahr 1975 gründeten Thomas und Peter Laughner gründeten Pere Ubu. Neben Thomas war auch der zeitgleich bei Pere Ubu beschäftigte Steve Mehlman immer beteiligt, zudem spielte Ubu-Musiker Gary Siperko auf dem Album Black Record. Pere Ubu wuchs um weitere Mitglieder an und nahm im September 1975 ihre erste Single 30 Seconds over Tokyo auf.

Die erste VÖ gleicht einem Kometeneinschlag

30 Seconds over Tokyo ist die Debütsingle von Pere Ubu. Geschrieben von den Bandmitgliedern David Thomas, Peter Laughner und Gene O’Connor während ihrer Zeit bei Pere Ubus Vorgänger „Rocket from the Tombs“, wurde es 1975 bei Thomas‘ unabhängigem Label Hearthan Records veröffentlicht. Der Text des Liedes basiert auf dem Doolittle Raid von 1942, erzählt aus der Perspektive eines Piloten auf einer Selbstmordmission. Der Titel wurde dem Buch Thirty Seconds Over Tokyo von Doolittle Raid Pilot Captain Ted W. Lawson aus dem Jahr 1943 entlehnt, das 1944 in einen gleichnamigen Film adaptiert wurde. Thomas, der es als Popsong bezeichnet, sagte, dass „30 Seconds“ „wahrscheinlich das letzte Mal war, dass ich in einer reinen Erzählform geschrieben habe“. In dem Buch Rip It Up and Start Again nannte der Kritiker Simon Reynolds es „in seiner strukturellen Seltsamkeit fast prog“, mit einem Intro „wie eine schleppende, rhythmisch verrenkte Mischung aus Black Sabbath und Reggae“. Auf der Compilation Datapanik in the Year Zero finden wir die Hearpen Singles, die zwischen 1975-1977 veröffentlicht wurden.

Anfang 1976 folgte die Single Final Solution.

Den Single-Veröffentlichungen folgten Auftritte im Max´s Kansas City Club in N.Y. und einigen Clubs in Cleveland. Nach einigen Umbesetzungen in der Band kam es Mitte 1976 zur Veröffentlichung der dritten Single Street Waves, auf der erstmals die ‚klassische‘ Besetzung Thomas, Herman, Ravenstine, Maimone und Krauss zu hören ist. Diese Single war es auch, die Cliff Burnstein von Mercury Records, auf die Band aufmerksam machte. Jedoch hielt Burnstein seine Firma nicht für das geeignete Label, sicherte jedoch in einem Gespräch mit Thomas der Band seine Unterstützung zu. Zwei Wochen später zeigte auch Chrysalis Records Interesse an Pere Ubu. Damit unter Druck gesetzt, schuf Burnstein eigens für die Band das Label Blank Records, das dann als Unterlabel von Mercury betrieben wurde.

Lebendig und berauschend, wenn auch hart und absichtlich hässlich.

Ken Tucker im Rolling Stone

Abgesehen von ein paar Auftritten bei Max’s Kansas City in New York waren Pere Ubu 1976 und 1977 ein fester Bestandteil von Clevelander Clubs wie Pirate’s Cove und The Mistake. Nachdem er die Band nach der Veröffentlichung ihrer ersten beiden Singles verlassen hatte, lenkte der Tod von Peter Laughner an chronischer Pankreatitis im Juni 1977 die Richtung der Band in eine Richtung, die von Woche zu Woche weniger Rocket From The Tombs ähnelte. Mit dem neuen Bassisten Tony Maimone, der Tim Wright für ihre zweite Besetzung ersetzte, gingen Pere Ubu im November 1977 in Clevelands Suma Studio, um The Modern Dance aufzunehmen.

Die ästhetische Einzigartigkeit von The Modern Dance

Auf dem Proto-New-Wave-Stück Street Waves beschwören Allen Ravenstines Synthesizer-Swells die Frequenzen von chemischem Niederschlag. Ravenstine arbeitete wie ein Dub-Produzent und spielte seine analogen Synthesizer EML 101 und 200 nicht so sehr, als dass er sie manipulierte, indem er mit Knöpfen, Schaltern und verschiedenen Patches Rauschen, verzerrte Swells und unheimliche Radiorauschen hervorlockte. Neben seiner durchgehenden Tonbandmanipulation und Saxophon ist sein minimalistischer, unkonventioneller Ansatz beim Keyboardspiel ein wesentliches Merkmal der ästhetischen Einzigartigkeit von The Modern Dance. Und wo das bassbetonte Bob und der offene Doom-Jazz von Laughing wie ein Murmeln klingt, das aus den Tiefen von Don Van Vliets Geist gespeist wird, erreicht Pere Ubus vagabundierende Experimentierfreude ihren Höhepunkt in Chinese Radiation, einem Track, der nicht nur Sonic Youth, Pavement und jeder anderen US-Indie-Rockband der 1990er um eine Generation voraus war, sondern auch ein die Grenzen des experimentellen Rock’n’Roll erweiternder Höhepunkt bleibt.

Der einzige Track auf dem Album, der Peter Laughner zugeschrieben wird, Life Stinks, ist eine kreischende, dadaistische Flut von Thomas‘ Gesang und Musette und Ravenstines Saxophon. Hier – wie bei einem Großteil von The Modern Dance – kann man die stilistische Geburt von Peter Hook und den Subfunk von Jah Wobble in Tony Maimones unzusammenhängenden, dominanten Basslinien erkennen. Das zerbrochene Glas und die gewundene Dunkelheit von Sentimental Journey, die Bilder von David Thomas heraufbeschwört, der auf einem einsamen, psychotischen Heimweg von einer Rock’n’Roll-Show im Rust Belt Kauderwelsch von sich gibt, kommt dem düsteren Einzelgängertum von Jandek, Slints Don, Aman und anderen zuvor, während „Over My Head“ eines der am besten abstrakten, langsam brennenden Liebeslieder der Ära bleibt, ein Track, der wie kaum ein anderer die dünne Linie zwischen Wahnsinn und Überschwang überspannt. The Modern Dance verlischt mit Humor Me, dem Sound eines letzten Shimmys, bevor im Morgengrauen die Bombe fällt.

I live in a dub house!

Nach einer Tour durch die USA und Europa erschien im gleichen Jahr das Album Dub Housing. Der Titel ist eine Anspielung auf die visuellen Echos von Blöcken identischer Reihenhäuser in Baltimore, die vermutlich an das Echo und den Nachhall erinnern, die Dub auszeichnen. „Dub“ ist auch eine Anspielung auf Zeugen Jehovas, die sich selbst als „Dubs“ bezeichnen. Leadsänger David Thomas war ein Zeuge Jehovas. Auf einer Bootleg-Konzertaufnahme von 1979 improvisiert David Thomas während des Songs Sentimental Journey die Zeile „I live in a dub house!“. Das Foto auf dem Cover zeigt das Apartmentgebäude in der Prospect Avenue 3206 in der Nähe der Innenstadt von Cleveland, in dem die Bandmitglieder lebten, als dieses Album aufgenommen wurde.

Auch im folgenden Jahr tourte die Band in Europa, diesmal zusammen mit Nico und The Red Crayola. Nachdem 1979 das dritte Album New Picnic Time veröffentlicht wurde. Berichten zufolge waren die Aufnahmen für das Album stressig und umstritten, und nach einer Tournee löste sich die Gruppe auf. Sie formierten sich einige Monate später neu, wobei Mayo Thompson den Gründungsgitarristen Tom Herman ersetzte. Im Grunde war The Red Crayola mehr ein Projekt Mayo Thompsons mit ständig wechselnden Mitgliedern, und so waren Pere Ubu, noch mit Tom Herman, komplett am Album Soldier Talk (1979) von The Red Crayola beteiligt gewesen.

Pere Ubu veröffentlichte noch zwei weitere Alben, die von Kritikern hoch gelobt wurden und auf diesem Re:Mix enthalten sind. Doch innerhalb der Band gab es zunehmend Spannungen. Thomas verwirklichte sich zwischen 1982 und 1987 auf insgesamt sechs Alben unter eigenem Namen, die alle eine Weiterführung des Ubu-Sounds bedeuteten. Ehemalige (Allan Ravenstine, Tony Maimone, Anton Fier), aber auch zukünftige Pere-Ubu-Mitglieder (Jim Jones, Chris Cutler) wirkten bei den wechselnden Soloprojekten von Thomas mit. Scott Krauss und Tony Maimone gründeten. Die einzige Konstante der Bandgeschichte blieb David Thomas. Andere Mitglieder verließen die Band, um später zurückzukehren. „Jeder ist Solist“ und „Jeder spielt mit Jedem“.

Strukturwandel

Großartig dokumentiert wir dies durch die zusätzliche CD „Cleveland Rarities“, die das Umfeld der Szene eindrucksvoll darstellt und in diesem Fall eine sinnvolle Ergänzung darstellt, weil man so einen hervorragenden Eindruck dieser Szene bekommt.  Cleveland war seit Mitte der 1970-ger Jahre eine Stadt im stetigen Niedergang. Viele Stahlfabriken und Produktionszentren machten dicht.Der Cuyahoga-River war so verschmutzt, dass seine brennbare Oberfläche 1952 und 1969 Feuer fing. Die Industrie hatte jahrzehntelang insbesondere den Fluss bedenkenlos mit ungeklärten Abwässern belastet, nun standen kostspielige Umbauten an, die sich die Eigentümer vielfach nicht leisten konnten oder wollten. Viele Betriebe mussten schließen. Umweltstudien warnten, dass auch der Eriesee im Sterben lag. 1978 wurde Cleveland die erste US-Stadt seit der Großen Depression, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkam. Im Laufe des Jahrzehnts verlor die Stadt unglaubliche 23,6 Prozent seiner Bevölkerung. Aber ähnlich wie New York, die psychische Sackgasse des Rock’n’Roll par excellence, diente dieses Milieu des eskalierenden städtischen Niedergangs als Muse für die krassen Erkundungen der ersten Singles von Pere Ubu. Vom bedrückenden Avant-Doom des überarbeiteten RFTT-Songs „30 Seconds Over Tokyo“ bis zum faustgeballten „Final Solution“ filterten sie die Trostlosigkeit des Rust Belt und die Nervosität des Kalten Krieges wie kein anderer. Schon damals klang Ubus selbsternannter „Industrial Folk“, als käme er aus einem Paralleluniversum.

 

 

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Datapanik in the Year Zero, Pere Ubu, 2009

Experimenteller Rock mit Elementen aus Musique concrète und Free Jazz

Weiterführend  Der Musikkritiker Ben Watson bezeichnet „Zappas Mothers of Invention“ als „politisch wirksamste musikalische Kraft seit Bertolt Brecht und Kurt Weill“ wegen deren radikalem, aktuellen Bezug auf die negativen Aspekte der Massengesellschaft. So besehen war Frank Zappa neben Carla Bleys Escalator Over The Hill einer der bedeutendsten und prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Gehört Miles Davis nicht dazu? Oder ist Fake Jazz das Eigentliche?

In der Reihe mit großen Blues-Alben hören wir den irischen Melancholiker. Hören den Turning Point, von John Mayall. Vergleichen wir ihn mit den Swordfishtrombones, von Tom Waits und den Circus Songs von den Tiger Lillies. Wahrscheinlich hat selten ein Musiker die Atmosphäre einer Stadt so akkurat heraufbeschworen wie Dr. John. Unpeinlich Deutsche Texte von Ton, Steine, Scherben. Wir ertasten auf KUNO den Puls des Motorik-Beats. Und machen eine Liebeserklärung an die „7-Inch Vinyl Record Single“. Krautrock ohne angloamerikanisches Vorbild – lässt es auch die Kraaniche fliegen? Auf Embryo’s Reise entdeckten die Musiker zwar nicht Amerika, sondern die Weltmusik. Ist das noch Krautrock? – Eher Labskaus vom feinsten! – War David Gilmour ein Krautrocker oder ein verkappter Blueser?

Des Weiteren: Eine Sternstunde des Rock’n’Roll. Eine Betrachtung von Both Sides Now. Lauschen der ungekrönten Königin des weißen Bluesrock. Und im Vergleich dem Lizard-King. Unterdessen begibt sich Eric Burdon auf die Spuren vom Memphis Slim. Erweiternd ein Porträt der Gorgeous Queen of Ruhrgebeat-Trash. Wir warten nach Heavy metal thunder nicht auf den Blitz, um den Göttern des Donners eine Referenz zu erweisen.

Wir verorten auf KUNO die erste Punk-LP mit dem Bananenalbum. Oder war es doch eher der Garagenrock? – Lässt sich davon der verschwitzte Proto-Punk der New Yorker Proll-Combo ableiten? Oder hatte der testosterongesteuerte Punk gar eine Ur-Mutter? – Der Titeltrack des Albums ist der mit Abstand spektakulärste und zeitloseste Titel des Albums. Bis heute ist Blank Generation der Song, der wohl größer ist, als die Band, die ihn produziert hat. Waren die Pistols die erste Boy-Group? Gegen Fresh Fruit for Rotting Vegetables hört sich alles andere wie Pop an. – Weitere ungelöste Fragen: Die The Ruts stellen mit einem Album das Lebenswerk von The Clash? Wann hört der Substance von Punk auf? Wann beginnt der Post-Punk? Ist das bereits New Wave? Oder stellt Polyrythmik den Höhepunkt dar? Thrash Metal ist das Resulthat der Verschmelzung der Energie und Geschwindigkeit des Hardcore Punk mit den Techniken der New Wave of British Heavy Metal. Die Alben von Wire stellen in beeindruckender Weise dar, was aus Punk hätte werden können.

The oldest sister with transistors was Laurie Anderson. Ihre jüngere Schwester im Geiste ist ein isländischer Kobold. Charmant an den Ambient Chansons von Mona Lisa Overdrive sind die Stücke, auf denen die Sängerin Nicole Vogt dem Material mit einer etwas fernen, wehmütigen Stimme eine Seele einhaucht. Geschlagene 16 (in Worten Sechzehn) Jahre lang kursierten unter den gewöhnlich gut eingeweihten Szenenkennen diverse Gerüchte um das unveröffentlichte Album Gift aus dem Jahr 2000. Es sollte seinerzeit Pia Lunds zweites Solo-Album nach ihrer Trennung von Phillip Boa & The Voodooclub werden. Lundaland, ihr Solo-Debüt von 1999, hatte die Kultsängerin als elegante Vorreiterin des verspielten Elektrobeats etabliert. Der Pyrolator aus Berlin erhielt in Anerkennung seines Lebenswerks das Hungertuch für Musik 2013. Eigentlich könnte: Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter. (Heinrich Detering)

Inzwischen gibt es: Pop mit Pensionsanspruch. Daher auch schnellstens der Schlussakkord: Die Erde ist keine Scheibe