EINE WANDERUNG

 

der boden des waldes schimmert golden. ich wandere durchs gebirge. am wegrand abgelagertes geröll, zerschrammt, verkrüppelt, schroff. darüber hagebuttensträucher. die augen entlang das rote leuchten. vom holunder fliegen meisen auf. die gelbbraunen blätter der bäume taumeln dem rachen der erde entgegen. ich ersteige ein plateau. unter mir die reste einer steinterrasse, von gras überwachsen. raubvögel kreisen über der landschaft. die ebene hinab betonpfähle, eingerammt, gleichmäßig der abstand. dazwischen weißer kiesel. der betonierte weg endet bei einer kahlen stelle. umgestürzte säulen, die allem anschein nach einmal im halbkreis standen. erkennbar noch das ornament der sonne, eingraviert in der gestalt eines rades. ich überquere ausgehobene gräben. abgetrennte kabel ragen ins leere. ich bücke mich. spuren von füchsen oder hasen. ich stoße gegen verbogene gitter. ich drehe mich um. rechts der leitungsmast, die drähte gerissen. links der wachturm. überm eingang ein zerkratztes zeichen. es könnte äste oder blitze darstellen, die spiralförmig emporwachsen oder niederfallen. die tür aus metall, offen und eingebeult. ich gehe hindurch und schaue hinauf. im schacht hängen die reste der herausgebrochenen steintreppe. ich laufe einen abhang hinunter, vorbei an hochständen und autowracks. ich erreiche eine verlassene obstplantage. verwachsene wege. summen und süße über der fläche. wespen saugen die säfte aus der fäulnis der körper, die das haarkleid des schimmels tragen. ich lasse meine finger ins fleisch der birnen gleiten, die ich auflese. ich esse davon und ahne, das könnten giftige, vergiftete, verbotene früchte sein. ich überlege, wer das hier bestimmt. und werf die angebissne hälfte weg. ich durchquere einen birkenwald. am stacheldrahtzaun lehnen klobige holzleitern. zwei bärtige männer treten hervor und reden vom umsturz. genaues wort. es dämmert. die bäume werfen schatten, die sich beleben. vögel mit dreizackigen schnäbeln fliegen vorüber. ich finde ein wärterhäuschen. meine hände ertasten den menschengroßen riß in der wand, keilartig eingeschlagen oder auseinandergebrochen durch druck. ich zwänge mich ins innere. ich zünde eine kerze, die bereitliegt. ich wärme mir die hände am feuer. darunter die tischplatte, befleckt von geronnenem blut, wein oder kot. motten und falter schwirren mit dumpfem aufprall gegen die fensterscheibe. ich höre das sterben der fliegen im raum. stille überkommt mich. irgendwo oben beginnt ein falke zu schreien. monoton tönen klagende gesänge vom hang des berges herüber. ich fliehe ins freie. ich laufe die schlucht hinab. ich gehe in die finsternis hinein.

 

 

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.