Für jede Begegnung und jedes gegenseitige Kennenlernen spielen Begegnungsmöglichkeiten, Begegnungsgelegenheiten, Begegnungsumstände, Begegnungsebenen, Begegnungsmittel u.a. eine in jedem Fall mitbestimmende, ja oft eine entscheidende Rolle. Unabdingbar aber ist die persönliche Bereitschaft, einander, dem anderen überhaupt begegnen zu wollen. Dafür muß man offen sein, auf den anderen und überhaupt auf die Menschen zugehen. Man muß die Menschen mögen, jedenfalls müssen sie einen interessieren und man muß bereit sein, von sich etwas zu geben. Man muß neugierig sein und sich für Menschen und deren Denken und Fühlen interessieren, sich ihnen annähern wollen und das auch lernen und es dann können. Natürlich bestimmt das eigene Wesen, das eigene Verhalten, ob dies überhaupt möglich ist oder nicht. Selbstverständlich gibt es auch uninteressante, ja auch unsympathische Menschen. Denen wird man vielleicht eher ausweichen, als sich auf ein Gespräch mit ihnen einzulassen. Es muß einem klar sein und man muß akzeptieren, daß man selbst auch nicht für alle Menschen immer einer ist, der vom anderen an sein Herz gedrückt wird. Aber Begegnungen müssen einen überhaupt interessieren und erfreuen; ansonsten geht man dem anderen – wenn möglich mit Höflichkeit – aus dem Weg. Mich jedenfalls haben Menschen immer interessiert, schon von Kindheit an; und da vorallem mir fremde Menschen, diese sogar mehr als jene, die ich ohnedies schon kannte, und die mich kannten oder meinten, mich zu kennen. „Anyway!“ sagte an einer solchen Stelle immer Frau Dr. Melusine Spiler in Jerusalem, in Prag, in Wien. Und ich borge mir diese Floskel seither von ihr aus. Also das ist es eben auch: Man nimmt vom anderen etwas auf und mit, hinein in eigene Situationen, ins eigene Leben. Begegnungen hinterlassen Spuren, in einem selbst und im anderen. So sollte es jedenfalls sein. Begegnungen können zeitweilige oder länger anhaltende Beziehungen, Freundschaften, ja sogar Lebensfreundschaften begründen. Das macht dann das soziale Umfeld aus. Ich aber bleibe lieber bei meiner Sprache, verwende meine Begriffe. Anyway! Begegnungen und Beziehungen können etwas sehr Schönes, etwas Gutes, etwas Verbindendes, auch etwas Bindendes sein. „In Beziehung treten“ ist eine bekannte, etwas altmodische Formulierung, die aber genau das ausdrückt und beschreibt, was bei einer Begegnung geschieht: Es ist, als betrete man einen anderen Raum. Das gilt für beide, für alle an einer Begegnung beteiligten Personen. Man betritt und durchschreitet Räume, Ich-Du-Räume, und hält sich darin auf. Begegnungen brauchen Räume, in denen sie stattfinden können und in denen man sich aufhalten kann. Man selbst muß und auch der andere muß bereit sein, sich zu öffnen. Der Meinungsaustausch gehört zu einer Begegnung genauso dazu wie Gefühle zuzulassen. Alles andere ist ein bloßes Sich-Verhalten, mehr nicht. Oberflächlichkeit ist ein Verhinderer von Begegnungen und von Selbstmitteilung. Aus der Flüchtigkeit einer oft nur zufälligen Begegnung können sich Eindrücke wie Sedimente niedersetzen. Die Erinnerung ist wichtig; später. So wie bei dem, was ich hier festgehalten und niedergeschrieben habe. Ich bin all diesen Menschen dankbar, die mir begegnet sind, die sich auf mich eingelassen haben, die mich in meinem Leben begleitet haben und die sich mir gegenüber nicht verschlossen, sondern geöffnet haben. Ich erinnere mich ihrer in den weitaus meisten Fällen sehr gerne, vor allem auch jener, die nicht mehr leben; es sind deren viele. Jetzt, da ich über sie geschrieben habe, sehe ich, wie reich eigentlich mein bisheriges Leben an Begegnungen war. Und ich habe hier ja nur über Schriftstellerinnen und Schriftsteller, über Berufskollegen geschrieben. Wenn ich so, jetzt zu meinem Siebziger, zurückdenke, sehe ich mich in all den unzähligen Ich-Du-Räumen wie ein Molekül kreisen und herumtanzen. Vielleicht werde ich noch über andere Begegnungen und Beziehungen, die zu meinem Leben gehören, schreiben. Jetzt ist es einstweilen genug. Hier ist ein kaleidoskopartiges, sehr subjektiv gestaltetes, kleines literarisches Lexikon entstanden, das Personen beschreibt, die mir begegnet sind; bei den verschiedensten Anlässen, zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichster Art und Weise. Aus diesen Schilderungen ist auch mein eigenes Ich herauszulesen. Und damit biete auch ich eine Begegnungsmöglichkeit mit mir. Ich lade dazu ein, diese Begegnungsräume hier zu mir betreten. An der Tür befindet sich kein Schild mit der Aufschrift „Eintritt verboten!“. Nein, die Türen sind offen, für jede und für jeden, um den Raum der Begegnung betreten zu können.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010, von Peter Paul Wiplinger. Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010