Small is beautiful ∙ Über den Vorläufer der Twitteratur

 

Die einfachsten Dinge habe ich zuletzt lernen müssen. Daher die Schwierigkeiten (Charles Olson). Die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten (Gottfried Benn). Wir sollten weniger entzückt von uns sein und mehr arbeiten (Anton Tschechov).

Notwendige Merkmale

Brillante Sätze, aber keine Aphorismen. Die heute weitgehend akzeptierte Definition des Aphorismus stammt von dem Literaturwissenschaftler Harald Fricke (1991). Danach besitzt der Aphorismus drei notwendige Merkmale: Prosaform, Nichtfiktionalität und kotextuelle Isolation. Kotextuelle Isolation bedeutet, dass der Text in einer Serie gleichartiger Texte erscheint, innerhalb dieser Serie aber jeweils von den Nachbartexten isoliert, d.h. in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar ist. Die voranstehenden Zitate sind also keine ›Aphorismen‹ da das dritte der notwendigen Merkmale auf sie nicht zutrifft: Sie stammen aus Gedichten bzw. einem Dramentext.

 Erkenntnis · Form · Erkenntnis

Nun gelten Frickes notwendige Merkmale des Aphorismus natürlich auch für Einzelsätze aus Sammlungen/Listen von Sachaussagen oder logisch-mathematischen Definitionen, das heißt, sie sind nicht hinreichend. Fricke führt als weiteres Merkmal ein, dass der Aphorismus eine sprachliche oder sachliche Pointe besitzt. Friedemann Spicker (2009) formuliert diese Feststellung etwas anders und wohl auch zutreffender: Der Aphorismus zeige Erkenntnis und Form oder Form als Erkenntnis, manchmal auch Form statt Erkenntnis. Allerdings muss man hinzufügen, dass mit der letztgenannten Möglichkeit der Aphorismus in gefährliche Nähe zum Kalauer geraten kann.

 Nur noch Aphorismen

Vom britischen Schriftsteller B. S. Johnson stammt der Satz: Ich denke mir, dass die Menschheit irgendwann vielleicht soweit ist, dass sie nur noch in Aphorismen schreibt. Und weiter: Der Präliminarien, Verflechtungen und Illustrationen überdrüssig wird und all der Künste, mit Hilfe derer ein großes Buch entsteht. Hat er das ernst gemeint? Wir können ihn nicht mehr fragen, aber der Überdruss vieler am großen Buch ist ja auch heute schon spürbar. Es ist so viel einfacher, ins Kino zu gehen, einen Film zu verspeisen (im Kunstfilmkino, zu inhalieren), als sich durch einen dickleibigen Schmöker hindurchzuarbeiten, und wir haben ja auch alle so wenig Zeit. Das Lesen von Gedichten wäre vielleicht für viele ein Ausweg, wären Gedichte nur nicht so ›schwierig‹ und würden sie nicht immer noch schwieriger werden von Saison zu Saison. Und Aphorismen? Eine leichte, eine schnelle Lektüre? Bereichernd?

Zündend

 Für das Lesen und Wirken-Lassen eines guten Aphorismus braucht es Zeit. Ein guter Aphorismus spricht einen Gedanken aus und zündet im Leser zehn weitere. Man kann das umdrehen: Wirkt ein Aphorismus schnell und ohne Nach- und Nebenwirkungen, ist er nicht viel wert. Wenn man sich einige Jahre lang mit Aphorismen beschäftigt hat, wird man natürlich auch hier – ähnlich wie beim Gedichtelesen – Vorlieben für bestimmte Stile und Autoren entwickeln. Gelegentlich wird der erfahrene Aphorismenleser die Augenbrauen hochziehen, das Buch zuklappen und – sich an die Pointe eines alten Witzes erinnernd – sagen: Mein Gott, lasst ihr euch leicht unterhalten!

 Im Falle eines Falles

Womit befasst sich der Aphorismus? Mit allem, was der Fall ist oder der Fall sein könnte. Manchmal sind Sammlungen von Aphorismen reizvoll, die sich auf spezielle Lebensfragen oder Spezialgebiete menschlicher Tätigkeit beziehen. Zwischen den Zeichen (1988) ist der Titel eines Sammelbands von Aphorismen über und aus Natur und Wissenschaft. Der Herausgeber, Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, ist Chemiker und war lange Zeit das für Forschung zuständige Vorstandsmitglied der BASF. Drei Beispiele aus der Sammlung: Das Elektron, der wahre Held des Jahrhunderts (Arthur Eddington); In den Naturwissenschaften ist die zappelnde Fliege oft der einzige Beweis für die Existenz eines Spinnennetzes (Erwin Chargaff); We haven’t the money, so we’ve got to think (Sir Ernest Rutherford). Die Autoren der in dem Band gesammelten Aphorismen sind überwiegend berühmte Wissenschaftler aus der Antike bis zur Gegenwart. Albert Einstein zum Beispiel ist mit 33 Aphorismen vertreten.

 Sammelbände

In den letzten Jahren sind zwei wichtige, gehaltvolle Aphorismen-Sammelbände erschienen: Aphorismen der Weltliteratur, herausgegeben von Friedemann Spicker (Reclam, Stuttgart 2009) und Neue deutsche Aphorismen, herausgegeben von Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annebelle Blume (edition AZUR, Dresden 2010). – Der Reclam-Band enthält Aphorismen von 58 Autoren, beginnend mit Francesco Guicciardini (1483 – 1540) und endend mit Botho Strauß (geb.1944). Von den lebenden deutschsprachigen Autoren sind außer Strauß nur noch Elezar Benyoetz und Peter Handke vertreten.

 Der Aphorismus lebt!

Die Aphoristik ist eine aussterbende Literaturgattung, lautet eine weit verbreitete Meinung. Die Herausgeber der Dresdener Anthologie wollten herausfinden, ob sie zutrifft, und zwar speziell für den deutschen Sprachraum, aus dem – historisch gesehen – viele berühmte Aphoristiker stammen. Das Buch widerlegt die vorgezogene Todesnachricht überzeugend. Die Herausgeber haben aus 160 000 Aphorismen (exzerpiert aus Büchern, Literaturzeitschriften, Zeitungen und unveröffentlichtem Material) die in ihren Augen besten 1308 Aphorismen ausgewählt, wobei – wie es im Nachwort heißt – ausschließlich die literarische Qualität – als Auswahlkriterium diente. Für die deutschsprachige Aphoristik der letzten 25 Jahre liegt damit ein sorgfältig erarbeitetes Standardwerk vor.

 So oder so

Wenn man in Aphorismusbüchern liest, erkennt man natürlich die Unterschiede in Weltsicht und Sprache der verschiedenen Autoren, aber auch viele Gemeinsamkeiten, Merkmale der Zunft sozusagen, oder wie es Elias Canetti ausgedrückt hat: Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie alle einander gut gekannt hätten.

 

 

Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander veröffentlichte seit Mitte der 1990er-Jahre Gedichte und Aphorismen. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend →

Lesen Sie auf KUNO auch Maximilian Zanders Essay über Aphorismen. Sowie einen Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.