Vom Zirpen zum Zwitschern

Das Internet ist wahrscheinlich ein kostbares Werkzeug, um unbewusste Verbindungen aufzudecken oder auch um Gespenster zum Leben zu Erwecken. Doch oft ist das Internet ohne jeden Nutzen, denn so leicht lassen sich die Gespenster nicht aufstöbern.

Patrick Modiano

Wenn man sich den Ursprung des Begriffes Lyrik ansieht, so kommt der Begriff selbst von dem Wort “Lyra“, was soviel bedeutet wie “Leier”. Demnach war Lyrik in ihren Anfängen bereits Wort in Verbindung mit Klang und Rhythmus. Das bedeutet, in gewissem Sinne ist die Wurzel der Poesie schon „interdisziplinär“, wenn man so will.

Wie aber sieht das Ganze heute aus?

Seit Anfang des Jahrhunderts besteht eine Tendenz, nach und nach auch andere Medien in das Textliche mit einzubeziehen. Man denke nur an den Boom der Videokunst sowie der Live-Elektronik in den sechziger Jahren. Interdisziplinarität birgt, wie viele herausragende Ergebnisse zeigen, eine große Chance, sie kann jedoch auch ungenaue Arbeit am Material “deckeln”.

Analysiert man, wie bestimmte Kunstschaffende- etwa die “Wiener Gruppe” in Wien oder “Oulipo” in Frankreich- mit Wort und Text umgegangen sind, so fällt auf, dass es immer kompositorische Prinzipien waren, die auf das vorhandene Sprachmaterial angewandt wurden. Strukturelle Herangehensweisen von Kompositiontechniken lassen sich, wie wir also spätestens seit diesen Bewegungen wissen, wunderbar auf die Sprache übertragen:

Wie baue ich Reihen, Listen, Varianten?

Wie gestalte ich eine Art des Zusammenhang fernab semantischer Strukturen?

Aber auch die klangliche Ebene ist eine, die jenseits der Form berücksichtigt werden muss. Demnach hören Lyriker ihre Texte meist innerlich, hören sie sich wieder und wieder durch, trimmen die sprachlichen Einheiten und stöpseln sie aneinander, so dass die einzelnen Worte lautlich wie auch rhythmisch zusammen passen und sich gleichsam in die Großform einschmiegen. Als problematisch kann es sich heraus stellen, wenn der Schreibende sich zum Sklaven der Technik, die er sich selbst auferlegt hat, macht. Dann wirken die Textergebnise zu „gerade“, zu „gebaut“, zu „konstruiert“.

In meiner eigenen Herangehensweise bewege ich mich immer zwischen Spracharbeit und Intuition. Es ist ein ständiges Oszillieren. Oft passiert es, dass ich einen ersten Wurf aus dem Bauch – bzw. eher dem inneren Ohr- heraus mache und diesen als Steinbruch für eine (Sprach)Komposition nehme, ihn dann in ein strukturelles Gewand einfüge. Oder aber umgekehrt: Ich erlege mir selbst eine Form (zum Beispiel das Anagramm, die Liste, den Zweizeiler et cetera) auf und versuche dann das, was herauskommt, aus dem Korsett seiner Form zu befreien. Die Arbeit bleibt immer eine Gratwanderung. Das Ergebnis ist nie befriedigend. Man befindet sich auf einer Reise.

Wie sieht das Ganze nun aber aus, wenn die Ebene der Musik sich zu dem vorhandenen Sprachmaterial dazu gesellt?

Auch hier stellt sich die Frage von Form und Freiheit. Inwieweit wird ein Text aufgedröselt, wenn er vertont wird? Inwieweit gibt der Text an sich schon die klangliche und zeitliche Abfolge der Musik vor? Wann arbeitet man für, und wann gegen den Text? Und: kommen nicht auch, wenn man “gegen” den Text arbeitet, ihn quasi in seine lautlichen und phonetischen Einzelstücke zersprargelt- hier wird z.B. aus dem Zirpen eine Repitition der Konsonantenabfolge “zrp” heraus geschält oder aber eine schrille Intonation des I- Lautes hervor gehoben- spannende Ergebnisse heraus?

 

 

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Dieser Text floß ein in den Band: Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

Weiterführend →

Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.

Das Projekt Wortspielhalle ist in der Edition Das Labor erschienen. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Ein Porträt von A.J. Weigoni findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können nach und nach hier abgerufen werden. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.