Das Hausbuch der kritischen Intelligenz

Das Leben lebt nicht

Ferdinand Kürnberger

Die Minima Moralia wurden von Theodor W. Adorno aus der Erschütterung über den Terror im faschistischen Deutschland geschrieben worden. Sie gehen auf Notizen zurück, die der Autor in den Jahren seines Exils in England seit 1934 und den USA seit 1938 niedergeschrieben hat; die meisten Stücke entstanden zwischen 1944 und 1947 im kalifornischen Exil. Die Minima Moralia wird auch als „eine aphoristische Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung“ verstanden. Sie schließen thematisch an deren letztes Kapitel mit der Kritik der Kulturindustrie an, greifen aber weit darüber hinaus.  Adorno brachte die Arbeit aus dem amerikanischen Exil mit nach Deutschland.

Der Titel Minima Moralia („Kleine“ oder „Kleinste Ethik“) verweist auf den lateinischen Titel eines traditionell Aristoteles zugeschriebenen Werks, die Magna Moralia („Große Ethik“). Die ironische Umkehrung des Titels bezieht sich weniger auf den Umfang des Buches oder die Länge seiner Beiträge, sondern auf den inhaltlichen Anspruch. Denn die Schrift enthält keine Lehre vom guten Leben im Sinne der philosophischen Tradition, sondern Gedanken über die Unmöglichkeit, unter den gegebenen Zeitumständen im nachliberalen Kapitalismus und Faschismus ein richtiges Leben zu führen. Nur als Negation der Adorno gegenwärtigen, entfremdeten Lebensweise lassen die Aphorismen wenigstens noch die Ahnung von Formen eines guten und richtigen Lebens wachhalten.

In dem mit Zueignung überschriebenen Vorwort spricht Adorno von der „Lehre vom richtigen Leben“ als der „traurigen Wissenschaft“ (MM 13) im Gegensatz zu Nietzsches Charakterisierung als fröhliche Wissenschaft und bemüht damit ein weiteres Antonym.

Gleichsam programmatisch hat Adorno dem ersten Teil seiner Stücke Ferdinand Kürnbergers Ausspruch „Das Leben lebt nicht“ als Motto vorangestellt (MM 20) und resümiert in seinem wohl meistzitierten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (MM 43). In seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie (Wintersemester 1956/57) relativierte Adorno seine Sentenz dahingehend, dass man stets so zu leben bemüht sein sollte, „wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch die Form der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre. […] Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand.“

In den Minima Moralia beantwortet Adorno die Frage, was das „richtige Leben“ ausmache, durchgehend in negativer Weise, als bestimmte Negation: „Er setzt bei dem an, ‚was nicht sein soll‘, bzw. am Leben in seiner ‚verkehrten‘ oder ‚entfremdeten Gestalt‘.“ Für Albrecht Wellmer enthalten die Minima Moralia Adornos Lehre vom richtigen Leben wie in Spiegelschrift. Entschieden weigert sich Adorno, Inhalt und Ziel einer emanzipierten Gesellschaft näher zu bestimmen (was schon Thomas Mann erheblich irritierte). Lediglich „dass keiner mehr hungern soll“ (MM S. 176) nennt er als Minimalbedingung. Gleichwohl bekräftigt er die Differenz zwischen Richtig und Falsch und will sich den „Traum eines Daseins ohne Schande“ nicht „abwürgen“ (MM S. 95) lassen. Für Martin Seel sieht Adorno in der Achtung vor dem Individuellen den Kern eines guten menschlichen Lebens. In dem Aphorismus Sur l’eau („Auf/Über dem Wasser“) stellt er „dem Modell der Produktion […] ein Modell der Kontemplation“ gegenüber, das er als Leitbild eines guten und richtigen Lebens in ein utopisches Bild fasst: „auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ’sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte anstelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten“ (MM 177). Nicht minder utopisch liest sich Adornos letzter Gedanke in diesem Buch: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist“, solle die Dinge so betrachten, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ (MM S. 281). Darin offenbart sich für Günter Figal „der gebrochene theologische Impuls von Adornos Denken“, nachdem schon sein intellektuelles Vorbild, Walter Benjamin, die Revolution in den Kontext einer Art Befreiungstheologie gerückt hatte.

In Minima Moralia findet sich auch Adornos berühmter und schon sprichwörtlich gewordener Ausspruch „Das Ganze ist das Unwahre“ (MM 55), der den Hegelschen Satz „Das Wahre ist das Ganze“ umkehrt. Kritiker erkannten in Adornos Behauptung einen Widerspruch; denn wenn „das Ganze“ unwahr sei, dann „ließe sich die Wahrheit über es gar nicht aussprechen“. Offensichtlich urteilt Adorno von einer „privilegierten Erkenntnisposition“ aus, die „über diesen [tatsächlich vorfindlichen] Bewusstseinsstand hinausreicht“ (MM 234) und gegen diese Einsicht kein Vetorecht duldet.

 

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Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, von Theodor W. Adorno. Suhrkamp, Berlin/Frankfurt am Main 1951

Die von Theodor W. Adorno gewählten Formen des Kurzessays, der Miniatur, des Langaphorismus und Denkbildes haben ihre Vorläufer im romantischen Fragment, aber auch in Nietzsches Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches und Walter Benjamins Einbahnstraße.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.