Es gibt keine Blaupause für ein Album wie Y

Wir alle, Dennis eingeschlossen, waren oft in unbekannten Gewässern unterwegs, und das hat dem Ganzen seinen Geist verliehen und es zu einem bahnbrechenden Album gemacht. Ich glaube nicht, dass wir versucht haben, anders zu sein.

Simon Underwood

Wenn es keine Blaupause gibt, dann sollte das Unerwartete erwarten. Y wurde am 20. April 1979 nicht einfach veröffentlicht, es schlug wir ein Blitz ein. Es zeigt eine Combo bereits auf einem frühen Höhepunkt ihres Schaffens. Die visionären Texte von Mark Stewart, die zuckenden Rhythmen und die Instrumentierung von Gareth Sager (Gitarre, Saxophon, Klarinette, Klavier, Orgel), Bruce Smith (Schlagzeug, Perkussion), John Waddington (Gitarre, Bass) und Simon Underwood (Bass) und nicht zuletzt die unkonventionelle Produktion von Dennis „Blackbeard“ Bovell machten dieses Album schnell zu einem epochalen Werk. Wir hören einen Mix aus experimentellem Post-Punk mit Einflüssen aus Dub, Avantgarde, Free Jazz und Funk und nicht zu vergessen die politischen Songtexte. Es war im Grunde eine Art Polaroid des Wahnsinns zu dieser Zeit.

Als wir mit Dennis ins Studio kamen, war er genauso verrückt wie wir.

Mark Stewart

Als wichtiges Stück in diesem Puzzle erweist sich der Plan, mit dem Dub-Produzenten Bovell zu arbeiten. Was auf dieser Zusammenarbeite folgte, war eine Phase der Energie und Intensität, die ein Hörerlebnis schuf, das dem entsprach. Die Sounds auf Y sind eine Mischung aus Fremdem und Vertrautem, auf den Kopf gestellten Hooks und unmittelbarer Kakophonie. Und als Texter war Stewart ein ebenso unersättlicher Ideensammler: Mythen, Philosophien, Kritiken und Surrealismus, die alle hervorgehoben und dekonstruiert wurden, ganz wie die Musik selbst. Mit Bovell fand die einen natürlichen Partner, jemanden, der die richtige Energie aus der Band herausholte und sie auch wieder zurückgeben konnte.

Es ist eine manische, paranoide, gewalttätige, schmerzhafte Musik.

Nick Cave

Auch wenn Y keine Blaupause hatte, hatte es definitiv ein Rückgrat: Funk. Er steckt im straffen, aber gummiartigen Groove von Thief of Fire, im kratzigen Noir von Words Disobey Me oder im skurrilen No-Wave-Freakout von Don’t Call Me Pain. Funk fließt durch die Adern von The Pop Group – ebenso wie Jazz, Noise, Reggae, im Grunde jede Platte, die sie in die Finger bekommen konnten. Und selbst als Punk gerade seinen Durchbruch erlebte, erregten Klänge von weit über ihren eigenen Hinterhof hinaus ihre Aufmerksamkeit, wie der polyrhythmische Groove der Talking Heads und das flüssige Gitarrenspiel von Television. Und bevor sie ihre eigenen, einzigartigen Klänge auf Band aufnahmen, verbrachten Stewart, Sager, Underwood, Bruce Smith und John Waddington ihre Teenagerjahre damit, in Jugendclubs in Bristol zu gehen und die Musik von Kool & the Gang und Parliament zu sehen und zu hören.

Wir waren noch sehr jung und hatten einfach Ideen und unglaublich unterschiedliche Musik, die wir liebten, alles von James Brown über Funkadelic bis hin zu Nico, John Cage, Stockhausen und Ornette Coleman“

Gareth Sager

Punk war für The Pop Group kein Sound, sondern ein Gefühl – eine Übertragung von Energie, Inspiration, sogar Erregung, die katalysiert und in etwas Neues und Produktives, Destruktives, Inspirierendes oder Strebendes verwandelt werden konnte. Y war Punk, auch wenn es nicht wie die Pistols oder The Damned klang, einfach weil es sich nicht an Erwartungen oder Anstand hielt. Sie schufen etwas und dekonstruierten etwas, und dieses viszerale, emotionale Gefühl sollte der Zuhörer mitnehmen und damit machen, was er wollte.

We Are Time, der letzte Titel auf der ersten Seite von Y, dem 1979 erschienenen Debütalbum der The Pop Group aus Bristol, packt eine Menge in sechseinhalb Minuten. Nach Punkrock-Maßstäben würden sechs Minuten ausreichen, um mindestens drei Songs hineinzustopfen, aber We Are Time fühlt sich nach mehr an. Angetrieben vom straffen Zusammenspiel zwischen Simon Underwoods Funk-Bass-Groove und den halllastigen Surf-Gitarren-Riffs des Gitarristen Gareth Sager begibt sich We Are Time auf eine interdimensionale Reise durch Punk und Funk, Dub und Jazz. Mark Stewarts verzerrte Stimme hallt von einer entfernten, unsichtbaren Basis herüber. Oberflächlich betrachtet fühlt es sich wie Chaos an, aber all seine Elemente vereinen sich zu einer Kollision seltsamer, gewalttätiger, außerirdischer Freude. The Pop Group ließen ihrem Publikum nicht die Wahl zwischen lauwarmer Enttäuschung. Es war entweder eine brutaler Schock oder eine absolute, ungefilterte Euphorie, die den Hörer beim ersten Auflagen ihres Debütalbums Y durchfluteten. Die Musik ist mehr ein heller Energieblitz, sie ist etwas, das man mit den Händen greifen kann, ein Ausdruck klanglicher Ekstase, der außerhalb struktureller Einfälle und Zwänge existiert. Sie wurde per Definition zu „Post-Punk“, schon allein deshalb, weil so radikale Musik Punk obsolet machte. Johnny Rotten predigte Anarchie; The Pop Group praktizierte sie.

 

 

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Y von The Pop Group, 1979

Weiterführend  Wir verorten auf KUNO die erste Punk-LP mit dem Bananenalbum. Oder war es doch eher der Garagenrock? – Lässt sich davon der verschwitzte Proto-Punk der New Yorker Proll-Combo ableiten? Oder hatte der testosterongesteuerte Punk gar eine Ur-Mutter? – Der Titeltrack des Albums ist der mit Abstand spektakulärste und zeitloseste Titel des Albums. Bis heute ist Blank Generation der Song, der wohl größer ist, als die Band, die ihn produziert hat. Dies ist das beste Album, das die Buzzcocks nie gemacht haben. Kaum ein Song beschreibt den beginnenden britischen Punk besser als „Oh Bondage Up Yours!“. Waren die Pistols die erste Boy-Group? Klingt die Trostlosigkeit des Rust Belt nach Punk oder Industrial Folk? Gegen Fresh Fruit for Rotting Vegetables hört sich alles andere wie Pop an. – Weitere ungelöste Fragen: Stellen die The Ruts mit einem Album das Lebenswerk von The Clash in den Schatten? Wann hört der Substance von Punk auf? Wann beginnt der Post-Punk? Ist das bereits New Wave? Oder stellt Polyrythmik den Höhepunkt dar? Thrash Metal ist das Resulthat der Verschmelzung der Energie und Geschwindigkeit des Hardcore Punk mit den Techniken der New Wave of British Heavy Metal. Die Alben von Wire stellen in beeindruckender Weise dar, was aus Punk hätte werden können.

Inzwischen gibt es: Pop mit Pensionsanspruch, sowie eine Rock and Roll Hall of Fame. Daher der Schlussakkord: Die Erde ist keine Scheibe