Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Der hallesche Lyriker Ralf Meyer erzählt in seinem neuen Gedichtband „Wiederstedter Elegien“ von einem der letzten Wunder in der Menschenwelt: dem Werden und Vergehen der Liebe. Er gewährt dabei einen so aufregenden wie frappierenden Einblick in die Lebens- und Liebeskunst. André Schinkel sprach mit dem Autor.
André Schinkel: Dein erstes Gedichtbuch „die innenwände des horns“ erschien 1996. Die „Wiederstedter Elegien“ sind nun nach einigen kleineren Veröffentlichungen der zweite reguläre Band. Der große zeitliche Abstand – ist er Verlegenheit oder Bekenntnis?
Ralf Meyer: Weder noch. Mir war klar, daß ich nicht noch so ein Buch machen wollte. Mich hat rasch nach dem Erscheinen an diesem ersten Band sehr vieles gestört. Mir schwebte etwas Anderes, Besseres vor. Es hat bis etwa 2000 gedauert, bis ich einen neuen Ansatz hatte.
A. Schinkel: Kannst Du dieses Störende beschreiben?
R. Meyer: Ein frostiger Expressionismus, den ich überwunden habe.
A. Schinkel: Was sich in den früheren Texten auch schon abzeichnet, tritt nun voll ausgebildet auf: Dein Bekenntnis zur festen lyrischen Form findet sich in den elegischen Versen im Hauptteil und in den gereimten Teilen des Rahmens wieder. Gibt Dir die Form Sicherheit für den Inhalt, ist es umgekehrt?
R. Meyer: Mir kommt es eher merkwürdig vor, daß so viele Autoren auf die Formen und ihre Vielfalt verzichten. Sie verzichten auf großen Reichtum. Ich würde gerne sagen, daß diese Autoren zu faul oder zu eitel sind, aber es ist heutzutage einfach eine Tatsache, daß alle möglichen Texte für Gedichte gehalten werden. Sie müssen nur kurz sein und so beschaffen, daß sich jeder bei ihnen denken kann, was er will. Ach, ich sag es trotzdem: Viele Leute sind zu faul und zu eitel für die Form!
A. Schinkel: Das Buch erzählt die Geschichte einer großen Liebe, die aufblüht und stagniert, leuchtet und vom Zerfall bedroht ist, im klassischen Versmaß. Wie kam es dazu?
R. Meyer: Ich trug den Wunsch, eine solche Geschichte in Versen zu erzählen, lange mit mir herum. Und 2001 fand ich das Thema dafür.
A. Schinkel: Bei der Elegie denkt man an die Vollender der Form: Goethe, Hölderlin, Schiller. Wie ist Dein Bezug dazu?
R. Meyer: Während ich die Elegien schrieb, habe ich die Texte – auch die der antiken Autoren – gemieden. Nach Abschluß der Arbeit wußte ich auch, warum. Man weiß die alten Meister anders zu würdigen, wenn man das selber mal versucht hat: Goethes Mustergültigkeit. Wie Hölderlin der Elegie eine ganz neue Farbe entdeckt. Die Elegie ist ein großes Abenteuer, weil sie verlangt, mit überwältigenden Gefühlen zu operieren und diese ins Maß, ins Maßvolle zu bringen. Dieses Verhältnis von Leidenschaft und Ratio steht für einen Teil Lebenskunst. Man kapiert bei den Elegien der Großen nur das, was man weiß; und ich hatte das Glück, Leute in meiner Umgebung zu haben, die sich nicht zu schade waren, auf bestimmte Schönheiten hinzuweisen. Zu diesen Leuten gehören die Lyriker Werner Makowski und Peter Gosse sowie die Literaturwissenschaftler Rüdiger Ziemann und Bernd Leistner.
A. Schinkel: Die alten Formen ins Heute gedreht, das ist schon faszinierend. Gibt es da von Deiner Warte aus Anknüpfungen zu zeitgenössischen Autoren?
R. Meyer: Die Vertreter der sogenannten Sächsischen Dichterschule, das waren die Lyriker meiner Jugend. Sie haben aus weltanschaulichen Gründen die Formenvielfalt gepflegt. Und: Peter Hacks hat exzellente Elegien geschrieben.
A. Schinkel: Wenn wir beim Zeitgenössischen sind: Was hältst Du von der heutigen Lyrik, ihrer Situation, insbesondere den Wortführern der sogenannten ‚Lyrik-Welle‘?
R. Meyer: Wenn das eine Welle ist, dann verweist sie offensichtlich auf ein Bedürfnis, das also besteht, wahrscheinlich: Individualität zu behaupten. Allerdings gestehe ich: Mit den meisten Texten der jungen Szene kann ich – ehrlich gesagt – nichts anfangen, will aber hier auch nicht alle über den selben Kamm scheren.
A. Schinkel: Nochmal zur Form: Was meinst Du, ist das gebundene Sprechen eine Option fürs Künftige und so eine Ausweichbewegung zur Gegenwart?
R. Meyer: Die gebundene Form ist in verschiedenen Epochen erprobt und damit ein erprobtes Werkzeug, sich die Gegenwart vorzuknöpfen. Der Gegenwart auszuweichen, das halte ich für beinahe unmöglich.
A. Schinkel: Der Novalisbezug im Buch führt uns ins mitteldeutsche Dreiländereck. Ist unter dieser Liebesgeschichte für Dich als Mansfelder zudem eine Heimkehr verborgen?
R. Meyer: Das Verlangen nach Liebe und das nach Heimat, die ähneln einander. Das ist aber eher für den Autor interessant, weniger für den Leser.
A. Schinkel: Was reizte Dich an Novalis?
R. Meyer: Die Geschichte beginnt im Wiederstedter Schloßpark, also in romantisch vermintem Gelände. Manche Zeiten sind anfälliger für die Romantik als andere; und mit Sicherheit ist ein bestimmtes Lebensalter anfällig dafür: die Jugend. Das interessierte mich, und es betraf mich, weil ich in Begriff war, das dreißigste Lebensjahr zu überschreiten. Das Motiv der romantischen Liebe, die unerfüllbar bleiben muß und im Fall Novalis unerfüllt bleibt, weil die Geliebte stirbt. Die skrupellose Verklärung von todessehnsüchtiger Jugend – man wird ja wirklich erwachsen, und beginnt den Leim zu bemerken, auf den man gegangen ist. Ich zog mich sozusagen an den eigenen Haaren aus dem romantischen Sumpf, und in dieser Hinsicht ist das Büchlein auch ein Beitrag gegen einen allzu leichtfertigen Umgang mit der Romantik.
A. Schinkel: Die Zuwahl des Rahmens, in dem das Liebesversprechen vom Entstehen der Gedichte abhängig gemacht wird, die dann den Hauptteil bilden, war sie von Anfang an geplant und unumstritten?
R. Meyer: Der Rahmen war von Anfang an geplant, und ich habe länger nach einer Form dafür gesucht. Die meisten, die die Texte kannten, haben von diesem Rahmen abgeraten. Mir ist aber die Komposition des Zusammenhangs wichtig, auch wenn sie bestimmte Leser vielleicht abschreckt. Der Rahmen stärkt die Geschichte und weist die Elegien eindeutig als Rollengedichte aus.
A. Schinkel: In der Rahmenhandlung begegnen wir der Figur eines merkwürdigen Alten, der eine reizvolle Rolle innehat, welche Funktion kommt ihm zu: die des puren Begleiters, Moderators, Kontaktes über die Zeiten hin?
R. Meyer: Er ist der Park- und Schloßwächter, ein Reiseführer, ein ‚Alter ego‘ des jungen Mannes. Er bringt seine Sicht der Dinge ein, die sich von dem unterscheidet, was die Jüngeren denken und glauben.
A. Schinkel: Freunde, die Deine Arbeit begleiten, möchten vielleicht die Gestalten des Buchs real personifizierbar wissen. Das Gegenüber des Liebenden, die Frauengestalt, ist sie reell vorstellbar oder als Kunstfigur doch eher das Ideal einer Geliebten?
R. Meyer: Da haben die Freunde vielleicht einen zusätzlichen Genuß in ihren Spekulationen.
A. Schinkel: Du bist als Chefdramaturg auf der halleschen Kulturinsel tätig. Theater und Lyrik – beflügelt sich das, schließt sich das aus, hat es überhaupt miteinander zu tun?
R. Meyer: Beides interessiert mich, beides kann einander beflügeln, und beides braucht Zeit. Da das Theater mein Beruf ist, ist die Frage des Vorrangs entschieden. Gottseidank muß ich nicht von meinen Einkünften als Lyriker leben, denn das könnte ich natürlich nicht.
A. Schinkel: Und zum Schluß: Wie sieht es mit künftigen Büchern aus? Werden wir wieder lange warten müssen?
R. Meyer: Ich bin so fleißig, wie ich sein kann. Es gibt diese Anekdote: Thomas Rosenlöcher wurde am Ende einer Lesung nach neuen Gedichten gefragt und rief ins Publikum: „Lesen Sie doch erstmal die alten!“ – Mein Buch ist eben erschienen, und Du fragst schon nach dem nächsten!
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Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.