Aussen. Eine scharfe Brise pfeift Max ins Gesicht. Eilig überquert er die Strasse, um die U–Bahnstation zu erreichen. Erste Regentropfen benetzen die Erde. Vermengen sich mit dem Staub der letzten Wochen. Schon riecht es nach Moder, Fäulnis und Zerfall. Zuerst in der Amtsstube, nun schwebt in der Stadt ein Hauch der Verwesung. Ferner Glanz einer Aura, die in Prospekten des Verkehrsamtes als besonderer Charme verkauft wird. Max registriert vorbeihastende Menschen. Sie jagen auf den Angstraum Fussgängertunnel zu. Am Haltepunkt hat sich bereits eine Menschenmenge angesammelt. Bewaffnet mit Schirmen und spitzen Ellenbogen. Sie bewegen sich in einem Kraftfeld von Eifersuchtsströmen. Die Massenmedien lokalisieren diese Zeitstile und amalgamieren sie zu Trends.
Leben ist kein Genre. Max studiert diese zappelige Groteske, erlebt es als spannungsvoll, was in die subjektive Welt tritt, während er durch die objektive schreitet und ist, das Ende vor Augen, jedem Anfang gegenüber offen. Das Leben beharrt jedoch unerbittlich auf seinem Authentizitätsmonopol. Max fühlt sich als existentiell Getriebener, nahe an der unschuldigen Reinheit des Sir Galahad, aber ebenso nahe an der Selbstzerfleischung. Die radikale Essenz seines Charakters ist der Widerspruch und so nutzt der nachdenklich Gestimmte die einzige Freiheit, die sich zwischen Ausdrücklichkeiten bietet: Selbstbestimmung.
Rückenmarksintellektualismus. Max durchquert den Park, um ohne Umsteige den Hauptbahnhof zu erreichen. Auf den Glassfassaden reflektiert sich ein Stück blauer Himmel. Ein kurzer Schauer fädelt hernieder. Ein Windstoss fegt ihm ins Gesicht, so dass seine Augen tränen und sein Fedora in einem Bogen davonfliegt. Max sieht seinem Hut nach, wie er vom Sturm getrieben durch den Park trudelt, in einem Teich landet… sich mit Wasser vollsaugt und langsam versinkt.
Stetige Verlangsamung. Max greift kursierendes Gedankentreibgut auf, sinniert darüber, ob Bilder bereits die Reichweite von Interkontinentalraketen haben. Wenn er Kunst betrachtet, bewegt er sich in die Bilder hinein. Sobald er diese Innensicht einnimmt, sieht er sich mit der Dauer der Werke konfrontiert. Es geht ihm nicht darum, zu finden, sondern zu entdecken. Er lässt nie ausser acht, dass eine künstlerische Arbeit da beginnt, wo Geschmack aufhört; reduziert ein Kunstwerk nicht auf den Inhalt; vergisst nie, dass die Kunst ein Zeitspeicher ist; und durchschaut das Material als Ideenträger der bildenden Kunst.
Subtiles Denkprotokoll. Er wird gekitzelt von den Strahlen der Sonne, die durch das Gezweig einer Eiche fallen. Ein Licht, das aufleuchtet wie handpoliertes Silber. Max zeichnet Denkbewegungen nach und ruft sich die Gemälde von Vermeer van Delft in Erinnerung, der mit Licht immaterielle Gestalten erschuf, als hätte er im Geheimnis des Lichts Zugang zu einem feenhaften Universum; dort herrscht das Einverständnis der Dinge mit dem Nichtsein.
Eine Nixe zwinkert. Max spiegelt seine Erscheinung in einer Pfütze, die sich vergrössert, weil der Rinnstein die Wassermengen nicht bewältigen kann, sich das Wasser einen Nebenweg sucht und in diese Lache mündet. Panta rhei. Behext vom Glucksen stellt er sich an den Rand des temporären Kleinstgewässerbiotops. Blickt in sein bewegtes Spiegelbild, versucht zwischen den kräuselnden Wogen die Loreley zu entdecken und hinter den Spiegel zu gelangen.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
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Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.