1. Es gibt im Grunde weder Herren noch Diener. Sklaven ihrer Fähigkeiten und Temperamente sind alle. Bleibt dir das stets bewußt, so wird es dir nicht schwer sein, dich und Andere zu lenken.
2. Wenn es dir schlecht geht, bemühe dich, es zu verbergen. Geht es dir aber gut, wachsen um dich herum Haß und Neid, so affektiere ein Lungen- oder Nierenleiden und kaufe dir eine Grabstelle. Alle Feindschaft wird schwinden.
3. Den Mächtigen gegenüber, denen dein Vermögen kein Dorn im Auge ist, sondern bloß ein Steuerobjekt, genügt es, wenn du den Müden spielst. Der Müde ist ungefährlich.
4. Tue stets, als würdest du das Leben ernst nehmen. Die Klugen halten dich, falls sie es glauben, für vertrauenswürdig; glauben sie es nicht, für klug.
5. Solange du gegen dich selber noch mißtrauisch bist, bist du sentimental.
6. Plusgefühle sind auch nur Schwächezustände. Der wahrhaft Überlegene (Wupptich) trägt, mag sein Körpergefühl ihn noch so hoch schwingen, dem Kenner stets deutlich, die große Gleichgult um die Lippen.
7. Durch nichts machst du dich schneller verdächtig als durch einen unbürgerlichen Lebenswandel, ohne daß es möglich wäre, zu erkennen, wo sein Vorteil liegt. Streue aus, daß du auf der Suche nach tüchtigen Automobil-Agenten seist, und alle Welt wird dir hofieren.
8. In jenen nie völlig zu vermeidenden Stunden, da unbezwingliche Sehnsucht nach einem inneren Halt dich überkommt, tiefer Selbstekel, der überdies dich besonders lucid macht für das Katastrophale deines Zustandes, das quälende Bewußtsein des großen Nichts: trinke zwei Tassen heißer Schokolade, schlucke eine Aspirin-Tablette und lege dich ins Bett. (Diese Stunden wären zu vermeiden, wenn es zu vermeiden wäre, durch schlechtes Schlafen oder Überanstrengung die Prädisposition für solch inneren Rückfall zu schaffen.)
9. Immer wieder einmal stößt du auf Leute, welche dir beweisen, daß es ein Leichtes ist, einen Fast-Cretin der Welt als Genie (nun ja) aufzuschwatzen. Ziehe aber daraus nicht den Schluß, daß hohes Können und Reklame identisch sind. Sie sind bloß (entfernt) verwandt.
10. Verzichte darauf, dich besonders zu fühlen, wenn ein Anderer vor dir sich blöde benimmt. Ein Dritter könnte es wahrnehmen und bei nächster Gelegenheit dir auf die Schulter klopfen.
11. Beschäftige dich eine Zeitlang mit den Werken der Ethiker. Je genauer du es tust, desto unerschütterlicher wirst du nachher deinen Gegenpol lieben.
12. Blase nie auf deinem Kerbholz. Du setzst dich der Gefahr aus, für eine blütenzarte Jungfrau gehalten zu werden oder für einen, mit dem verglichen Gilles de Ray ein Kaninchen war.
13. Gegen jeden läßt sich immer zu Recht etwas einwenden. Ein Starker ist aber trotzdem so manifest, daß man sogar Mehreres gegen ihn einwenden kann: er wird dadurch nur noch manifester. Hüte dich jedoch, Einwände zu liefern.
14. Älter zu werden als sechzig Jahre, ist kein großes Vergnügen und oft ein Malheur. Bedenke das, wenn du Dreißig bist, und karge nicht mit dir. (Zudem: der Sparsame siegt nicht.)
15. Wer mit Politik sich beschäftigt, ist nicht bloß kein Genießer, sondern fast immer auch irgendwo ein Krüppel. Solltest du aber einen sadistischen Sektor besitzen, den du nicht zu aktifizieren wagen kannst, so schiebe ihn gleichwohl dahin ab. Du wirst ihn hier vollauf und gefahrlos befriedigen.
16. Problematisch ist nur, was nicht evident ist. Und was nicht evident ist, ist meistens gar nicht der Rede wert.
17. Eine pathologische Belastung ist freilich kein sanftes Ruhekissen. Vielmehr ein kontinuierlicher Stachel. Freu dich dessen und wirf den Arzt hinaus, der dir ein Sanatorium einreden will.
18. Die Welt wird immer kleiner. Vergiß es nicht. Sonst kann es dir passieren, daß du meinst, weit vom Schuß zu sein, und du stehst vor dem Pistolenlauf.
19. Dramatisiere nie. Vereinfache immer.
20. Wann du wirklich alt bist? Wenn es dir kein Vergnügen mehr macht, ein Publikum zu haben.
21. Tüchtig ist, wer nicht gegen die Gesetze sich vergeht. Tüchtiger, wer sich nicht auf sie verläßt. Am tüchtigsten, wer immer wieder daran sich erinnert, daß nur staatliche Funktionäre sie ungestraft übertreten dürfen.
22. Hellhörig ist, wer immer und überall den Pferdefuß sieht.
23. Wenn du in Gesellschaft plötzlich Blutandrang zum Gehirn verspürst, so schweige sofort und lächle zu allem. Andernfalls könntest du eine so fürchterliche Dummheit machen, daß du erst nach Jahren, und nur durch einen Zufall, erfährst, eine gemacht zu haben.
24. Es gibt eine Art von Selbstzufriedenheit, die sogar dem dir am nächsten Stehenden mißfällt.
25. Niemand kann sehr lange aus dem Vollen auf das Leben losgehen. Es kommen ebenso viele böse Zufälle wie gute. Man muß im richtigen Augenblick aufzuhören wissen. Sonst geht man unter. Manchem widerfährt das freilich schon beim ersten Schritt. Sehr Wenigen nie. Rechne aber nicht darauf, zu diesen zu zählen.
26. Du magst noch so stark sein, wenn deine Erfahrung minimal ist, kannst du schneller und furchtbarer zugrunde gehen als ein regulärer Dummkopf.
27. Obschon mancher Querkopf unerträglich zu sein pflegt, bemerkst du, wenn du ihn verlassen hast, daß er dir näher steht, als dir lieb ist.
28. Um zeigen zu können, daß man baronisiert, muß man faktisch und in jeder Hinsicht unabhängig sein. (Oder sehrstark.)
29. Spricht jemand so langsam und bedächtig, daß du dich wunderst, ihm immer noch zuzuhören, dann achte darauf, ob er nicht vielleicht etwas Bedeutendes (Truc!) sagt.
30. Jahrhunderte hindurch wurden in alle Dinge Tiefen hineingeheimnist, die sie niemals hatten. Das hat sehr viel Unheil angerichtet. Banalisiere die Dinge und du wirst Erfolg ernten und Chancen säen.
31. Die Zeit nicht nach dem Kalender zu rechnen, sondern nach gewissen Begebenheiten des Jahres, erscheint wie ein schlechter Scherz. In Wirklichkeit ist es lediglich eine Frage der Willenskraft, die in unerwartetem Maße durch eine große Erhöhung des Lebensgefühls sich belohnt macht. Die oft unerschöpfliche Kraftreserve überlegener Naturen (Rasta) setzt sich aus solchen Eigenwilligkeiten zusammen.
32. Huren machen oft während des Stehens oder beim Umkehren Bewegungen mit dem Absatz, die auf den ersten Blick die Straßen-Habituée verraten. Hast nicht auch du kleine Gewohnheiten, die mehr von dir preisgeben, als rätlich ist?
33. Das beste Mittel, dir oft selber das Leben zu retten, ist, feig zu sein. Sei nur dann mutig, wenn es sich lohnt; und schärfe dir ein, daß Mut nichts weiter ist als der verfluchte Hang, in unterlegener Form oder gegen die Überzahl einen Kampf aufnehmen zu wollen.
34. Wenn du noch nicht die bissigen Beichten eines Impotenten gehört hast, seine gräßlichen Flüche und ohnmächtigen Begierden, weißt du nicht, wie gut es dir geht.
35. Will dir das absolut Spekulative aller Ethik nicht in den Kopf, so mache eine Reise um die Welt. Du wirst nachher Bergson und Spinoza lesen wie …. wie wenn du einen Besuch in einem Heim für Schwachsinnige machen würdest.
36. Umgehe es mit größter Gewissenhaftigkeit, von deinem Privatleben so zu sprechen, wie du es mit dem der Anderen und mit allem andern gewöhnt bist. Umgibt dich nicht letzthin der Schleier des Rätselhaften, Besonderen, vermag alle Überlegenheit (on sait) nicht, dir auf die Dauer jenen Einfluß zu schaffen, dessen du zum Erfolg (Betrag) bedarfst. Denn Alle treibt ein geheimes Nivellierungsbestreben. Gibst du dich ihm preis, wird es ihm gelingen, da alles zu nivellieren ist. Entziehst du ihm aber wichtige Teile deines Wesens, werden Alle doch immer wieder von dem Zweifel geplagt sein, es würde ihnen bei dir vielleicht doch nicht gelingen.
37. Laß dein Leben nicht zu regelmäßig werden. Du könntest Gefallen daran finden und in einem Jahr einen Bauch haben und ein Kind. Jeder Abstieg geht rasch vor sich. Und oft kommt der Stärkste dabei ins Laufen, ohne sich aufhalten zu können.
38. Scheue dich nicht, gelegentlich vorsichtig und kleinlich zu sein wie ein Bürger. Wer ausnahmslos mit sich umgeht wie der Regen mit Landschaft, wird plötzlich einmal im Spital liegen.
39. Gewiß, an deinem Ursprung steht der Desperado. Hast du dich aber losgelassen, so mußt du es vergessen und kaltblütig sein und konzentriert.
40. Meditiere nie. Mache nur Pläne, Dupes und kein Aufhebens.
41. Bei entscheidenden Unternehmungen darfst du weder deiner Erfahrung völlig vertrauen noch deinem Verstand noch besonders günstigen Umständen. Probiere deinen Plan zur Gänze oder in Raten abseits durch, bevor du ihn am gewählten Objekt ausführst.
42. Du wirst immer wieder Erfolg haben, wenn du nie außer Acht läßt, daß nicht der Glaube an ihn ihn zwingt, sondern dessen Verachtung.
43. Laß dich nicht durch den Erfolg dazu verleiten, das Sprungbrett deiner inneren Tabula rasta wegzustoßen. Es ist das Geheimnis deiner Kraft und deines Sieges. Fällst du auf dich selber hinein, beginnst du, an deine Überlegenheit als etwas Positives zu glauben, wirst du beim nächsten Sprung schon nicht mehr denselben Anlauf haben und zu kurz kommen.
44. Befällt dich die große Wut, unternimm sofort etwas. Wenn du nichts anderes in Griffnähe hast, erkläre einem sechsjährigen Mädchen die Kraft des Mondlichts.
45. Solange du dich noch nicht so erniedrigen kannst, wie du deinen Hut aufsetzst, hast du immer noch ein wenig falsches Selbstbewußtsein.
46. Alles, was immer auch man von dir erbittet, versprich, zu erfüllen. Ja versprich es so freudig, daß jeder Zweifel an der Echtheit deines Versprechens dahinschmilzt. Wenn du es dann nicht gehalten hast, wird man dich bereits so gepriesen haben, daß es nicht mehr angeht, das Gegenteil von dir auszusagen.
47. Es wird in der Welt regiert, indem Komödie gespielt wird. In diesem Zeichen allein wird gesiegt. Drum kämpfe nie um etwas. Spiele dich – vor.
48. Die Unermeßlichkeit deiner Chance vermagst du am deutlichsten daran zu erkennen, daß es in allen Kulturländern Millionen von Menschen gibt, die sogar noch ein Fünftel dessen, was in den Zeitungen zu lesen ist, tatsächlich glauben.
49. Sprich nicht zu oft zynisch. Sei es immer.
50. Ärger darfst du nicht einmal markieren.
51. Sprich ironisch, ohne zu lächeln. Lächle, ohne zu reden.
52. Markiere so oft, wie es angeht und ohne daß es auffällt, großes Erstaunen.
53. Lobe oft. Bewundere selten. Tadle nie.
54. Fühle dich als Taschenspieler des Geistes, als Fregoli der Persönlichkeit.
55. Dein größter Vorteil? Nicht zu sein, was du scheinst; ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist.
56. Trau, schau, niemandem.
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1919 trug Walter Serner Teile aus Letzte Lockerung vor. Dabei kam es auf der Dada-Soiree Non plus ultra in Zürich zu einem Aufruhr des Publikums, und Serner wurde von der Bühne gejagt. Sein Manifest steht in eindeutigem Zusammenhang mit dem von Tristan Tzara verfassten Manifest Dada 1918 – jedoch hatte Serner sein Manifest bereits vor dem Erscheinen von Tzaras Text verfasst. Wer wen beeinflusste, lässt sich letztlich nicht mehr nachweisen.
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.