Atemschaukel

Vorbemerkung der Redaktion: Im Winter 1945 wurden Abertausende Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in die Sowjetunion deportiert. Die Rote Armee requirierte sie als menschliches Material, das im Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Sowjetunion Verwendung finden sollte. In bestimmten Regionen waren es buchstäblich alle Frauen und Männer zwischen 17 und 45 Jahren, die verschleppt wurden und in Bergwerken, Kolchosen, Kombinaten als Zwangsarbeiter ums Überleben arbeiten mussten.

 

Die Atemschaukel ist aus zwei Gründen ein besonders außergewöhnliches und bemerkenswertes Buch. Sie berichtet aus der Ich-Perspektive von der Deportation eines jungen Rumänisch-Deutschen, der gegen Ende des zweiten Weltkriegs, wie viele seiner Generation, aus Siebenbürgen in ein sowjet-ukrainisches Arbeitslager verbracht wird. Und diese Geschichte erzählt sie mit einer besonderen Intensität, welche über die die übliche sogenannte Lagerliteratur weit hinausragt. Ja, sie hatte großartige Unterstützung, die Erinnerungen von Oskar Pastior,  Lyriker, auf dessen Erleben die Geschichte größtenteils aufbaut. Trotzdem ist das Buch schon alleine deswegen ein Meisterwerk, weil es ihr gelingt, dieses Geschehen so verdichtet darzustellen, als wenn es ihre eigenen Erinnerungen wären, die sie für uns festgehalten hat. Der zweite Grund dieses Werk zu lesen, lässt sich nicht in einem einzigen Satz beschreiben, denn er setzt sich aus den vielen fantastischen Sätzen dieses Buches zusammen, die einen erschrecken und entführen, absonderliche Satzgebilde, poetische Konstruktionen, die ihresgleichen suchen, mich beim Lesen richtiggehend haben zittern lassen. Am liebsten hätte ich zeitweise vor Erstaunen ausgerufen, so ungewöhnlich und gleichzeitig schön waren die gefundenen Benennungen, welche einen tief in das Lagerleben eintauchen lassen. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. Ich hebe den Blick, da oben stille Sommerwatte, die Stickerei der Wolken. Mein Hirn zuckt mit einer Nadelspitze am Himmel fixiert, besitzt nur noch diesen einen festen Punkt. Und der phantasiert vom Essen. Schon sehe ich die weißgedeckten Tische in der Luft, und der Schotter knirscht mir unter den Füßen. Und die Sonne scheint mir hell mitten durch die Zirbeldrüse. Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt: Du bist mir noch immer nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker. Ich könnte viele andere Stellen dieser Art zitieren, großartige Literatur, man kann das Buch zufällig aufschlagen, fast auf jeder Seite finden sich Sätze, welche die Wirklichkeit einspinnen und auf eine unsagbare Ebene bringen, Wort-Collagen, welche dem Leser lange in Erinnerung bleiben.

 

 

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Atemschaukel. Roman von Herta Müller. Hanser 2009