Iris Radischs Kritik in der Zeit vom 20.8.2009 ist nicht nur polemisch, sondern vernichtend.
Sie hält die Sprache Herta Müllers für ungeeignet, das Lagergrauen zu beschreiben („Harfenklänge und Engelsgesänge im Secondhand-Betrieb“), und wirft ihr vor: „Jeder Versuch einer poetischen Überhöhung und Intensivierung wirkt hier abgeschmackt und formelhaft …“
Das „lyrische Vokabular des 19. Jahrhunderts, vor allem der Engel, der Himmel, die Wolken, die Augen, der Mond, die Blumen, die Nacht, das Herz gehen süßliche, infantilisierende Allianzen ein mit den Instrumenten des Terrors: der ›Hungerengel‹ fliegt durchs Lager, die ›Herzschaufel‹ umschmeichelt lyrisch das Kohleschippen, die Lagernacht ist aus ›Tinte‹ … über dem Lagerhimmel steht der Mond wie ›ein Glas kalte Milch‹. Sprachlich ist man hier näher bei der ›Menschheitsdämmerung‹ des Expressionismus als bei Stalins Himmelfahrtskommandos. Das Bestreben, die Dramatik des Erlittenen und schier Unerträglichen durch besonders erlesene Herz-Schmerz-Vokabeln und Engelbeigaben zu unterstreichen, bringt eine Kunstschnee-Prosa hervor, die das Leid unter ihrem antiquarischen Pathos begräbt und das Unvorstellbare allzu vorstellbar macht.“
Die Kritikerin kann nicht erkennen oder will nicht wahrhaben, dass Herta Müller eine Allianz mit den Seelen der Gefangenen eingeht, die aus dem Wesen der Sprache gerissen wurden, die die Erzählerin hier beschwört. Sie singt mit der „Atemschaukel“ ein melancholisches Totenlied der Seelenzerstörung in Prosa, ein lyrisches Epos in Leid-Kapiteln, die in ihrer Gesamtstruktur modern komponiert sind. Nicht Handlungsstränge sind wichtig, sondern Facetten und Tiefenstrukturen der Gefangenschaft, der Qual, der Hoffnungs-Illusionen, der von außen nach innen und von innen nach außen wirklich erlittenen Schmerzen.
Radisch übersieht das surplus an Dialektik, das die metaphorische Sprache dieses Romans erzeugt: Die expressive Bildsprache zitiert eine Zeit, in der extreme Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit umschlugen in neue Hoffnung. Der Schrei der Angst und der Schmerzen ist immer zugleich der Schrei nach dem Ende der Qual. Diese Sprache zitiert die Seelenwirklichkeit der Gefangenen aller Zeiten. Sie entspricht dieser unveränderlichen Wirklichkeit, die mit einer neuen Sprache nicht authentischer beschrieben würde. Herta Müllers Sprache verliert nicht an Authentizität, weil sie ihrem Wesen nach bekannt ist. Umgekehrt! Weil sie bekannt ist und weil sie die Seelenbilder der Gefangenen beschreibt, bestärkt diese Sprache die Echtheit der Erlebnisse, Gefühle und Reflexionen. Neue Bedeutung gewinnt Herta Müllers poetische, oft lyrische Erzählsprache in den Kapitelstrukturen: Hier tritt meist die Handlungsebene zurück, Äußerlichkeiten spiegeln innere Vorgänge, geradezu strukturalistisch wird das Wesentliche der Gefangenschaft durchdekliniert in den thematisch unterschiedlichen Kapiteln, die zum Ende hin einer dramaturgischen Linie folgen.
Die Wahrheit der erlebten und erlittenen Tatsachen wird, prismatisch gespiegelt, zur poetischen Wahrheit. Das ist Lessings Forderung für das Drama (in der Hamburgischen Dramaturgie), die genauso für die Erzählung des Schrecklichen gilt. Das Dramatische ist facettiert in Einzeldramen der Seele: Angst, Hoffnung, Resignation, Depression, Hunger und Durst, Armut, Kälte, Hitze, Erschöpfung, Träume, Illusionen, Abhängigkeit, Schmerzen, Ungerechtigkeit, Härte, Zynismus, Mangel an Liebe, Auszehrung, Suche nach Halt, religiöse Besinnung, Selbstbesinnlichkeit, Ichschwund, gruppendynamische Gewalt, Rollenzwänge und dergleichen mehr – in der oft grotesken Zuspitzung schwanken solche Aspekte oft zwischen dem Tragischen und Komischen. Sie sind insgesamt ein Bild menschlicher Existenz. Atemschaukel ist also eine Existenz-Parabel.
Wem will Iris Radisch gefallen mit solcher Polemik gegen eine Dichterin, die sie nicht verstehen kann, weil sie das nicht will, deren Ästhetik sie ablehnt im Namen der heiligsten Kuh ihrer Literaturkritik: Authentizität.
Ich halte dagegen: Wir erschaffen die Echtheit des Geschriebenen, indem wir es aus der Perspektive der Gefangenen und Entwürdigten lesen und – anders als sie – den Schauer einer heimlichen Schönheit erkennen, der dem Grauen, der Gewalt, dem Töten und Sterben innewohnen kann, weil das Skelett des Leben aufscheint in der äußersten Reduktion. Die Gefahr der Verselbständigung einer solchen Nebenästhetik besteht aber in Herta Müllers Atemschaukel deswegen nicht, weil die poetischen Bilder den Gefangenen gehört, nie der Gewalt selbst. Die Poesie verharmlost nicht das Leid der Leidenden, sondern versteht sie von innen heraus und gibt ihnen Würde zurück, die sie durch Gewalt verloren. Die Metaphorik verdeutlicht das Leid. Atemschaukel ist ein Mausoleum des Schmerzes.
Gewiss, eine andere Sprache – wie etwa die Nüchternheit bei Imre Kertesz – wäre möglich. Der Verzicht auf explizite Metaphorik scheint eine genauere Beschreibung der Gefangenschaft zu gewährleisten. Aber was wäre gewonnen, wenn die durch Metaphorik erzeugten Andeutungen dünner würden? Werden dann die Bilder im Kopf des Lesers automatisch echter? Herta Müller ging diesen Weg auch, indem sie eine einfache Syntax gebraucht, die einerseits Nüchternheit bewirkt, andererseits aber auch die Konzentration auf Einzelheiten, die bei dieser Erzählweise zunächst unverbunden nebeneinander stehen.
Die Erzählperspektive ist gebrochen: Der Ich-Erzähler, die männliche Hauptfigur des Romans – der auch ein Prosagedicht in vielen Kapiteln genannt werden kann – bleibt meist auffallend unscharf, hinter diesem Ich steht die weibliche Autorin, die durch dieses fast fiktive Erzähler-Ich hindurchschaut auf die erfahrenen Wirklichkeiten vieler anderer Ichs.
Dies und die thematische Akzentuierung der Kapitelstruktur und die Vernetzung durch Metaphorik leisten den Zusammenhalt des Erzählten und enthalten Ansätze des Interpretierens, die auch die nüchternste Erzählweise nicht vermeiden kann. Warum auch? Selbst die nüchternste Sprache entkommt der Bildersetzung nicht, die Sprache ist bildgebend in allen ihren Wörtern.
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Atemschaukel. Roman von Herta Müller. Hanser 2009
Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.