In welcher Sprache fällt der Regen auf kummergewohnte Städte?
Pablo Neruda
Solche offensichtlichen Lücken in der vorliegenden voluminösen deutschsprachigen Ausgabe sind nur dann zu füllen, wenn die Poetik dieses Werkes unter Verweis auf Schaffensphasen und Lebensabschnitte aufgezeigt wird. Damit würde auch der so breit gefächerte Rezeptionsprozess für ein größeres Publikum durchsichtiger, das mit dem Namen des Nobelpreisträgers und dessen Schaffen vor allem den Befreiungskampf der lateinamerikanischen Völker verbindet. Über andere wesentliche Themen in dem so breit angelegten Werkes jedoch nur lückenhaft informiert ist und deshalb im Stich gelassen wird bei der Zuordnung der Gedichte. So verweisen die Titel der Gedichtzyklen im Band I: Balladen von den blauen Fenstern, Zwanzig Liebesgedichte, Der rasende Schleuderer, Aufenthalt auf Erden, Spanien im Herzen, Der Große Gesang, Die Verse des Kapitäns, entstanden zwischen 1919 und 1952, auf eine breite Palette von Orten, historischen Ereignissen wie auch von Brüchen in der poetischen Erfassung von realen und fiktiven Gegenständen. Eine aufmerksame Lektüre der beiden ersten Zyklen aus Nerudas Jugendzeit, den Balladen aus den Jahren 1919/20 und den Liebesgedichten (1924), würde zum Beispiel bei deren vergleichender Bewertung den eklatanten Bruch in der poetischen Anlage feststellen, ohne die besondere Bedeutung der Liebesgedichte sowohl für das Werk als auch für die einsetzende weltweite Anerkennung der Neruda’schen Dichtung zu erkennen. Einige Beispiele sollen die enge Verbindung von poetischer Eleganz, ideologischer Verengung, Empathie und Irrtum in der Dichtung des Meisters verdeutlichen. Die begeisterte Aufnahme des Zyklus ‚Spanien im Herzen’ (1936-45) in Der Große Schleuderer mit der leidenschaftlichen Beschreibung des Kampfes der Republikaner gegen die Frankisten in Madrid 1936: „Madrid, einsam und erhaben, Juli überraschte / dich in deiner Fröhlichkeit / einer bescheidenen Bienenwabe; hell war deine / Straße, / hell dein Traum. / Schwarzes Rülpsen / von Generälen, / eine Woge / wütender Soutanen / brach ihre Schlammfluten, ihre Flüsse Schleims / an deinen Knien.“ (Bd. 1, S. 234; Übersetzung: Fritz Vogelgsang). Oder Der Große Gesang aus dem Jahr 1950 mit der Anrufung der Völker Süd- und Mittelamerikas. Zu diesem Zeitpunkt ist Neruda bereits stark von der kommunistischen Ideologie beeinflusst. In ‚Die Ströme des Gesanges’ widmet er sich dem Leiden des kubanischen Volkes, vergleicht dessen Freiheitsdrang mit dem erfolgreichen Kampf der Roten Armee in China: „Miguel, fern vom Gefängnis von Osuna, fern / der Grausamkeit, führt Mao-Tse-tung / deine zerfetzte Poesie in den Kampf, / unserem Sieg entgegen. / Und Prag, von Leben brausend, / erbaut den süßen Bienenstock, den du besungen.“ (Bd. I, S. 683, Übersetzung: Erich Arendt). Und unter dem Eindruck der Verleihung des Stalinpreises 1953 widmet er sich in Die Trauben und der Wind (1954) den gigantischen Umgestaltungsplänen der eben entstandenen kommunistischen Regimes in Ost- und Ostmitteleuropa und den alten europäischen Kulturen, in ‚Der Wind über Asien’ begeistert er sich an dem Aufmarsch der chinesischen Volksmassen in Peking im Antlitz von Mao, in ‚Weit ist die neue Welt’ besingt er die Völker der Sowjetunion, betrauert den Tod des Genossen Stalin und lobt den Kommunismus: „Mensch sein! Das ist / das Stalinische Gesetz! / Kommunist sein ist schwer. / Man muß es werden lernen./ Kommunistischer Mensch sein / ist schwerer noch, / und man muß von Stalin lernen / diese heitere innere Kraft, / seine konkrete Klarheit, / seine Verachtung / des leeren Schön-Geredes… / Er ging ohne Umschweif daran, / den Knoten zu entwirren. (Bd. II, S. 119, Übersetzung: Erich Arendt).
Und im gleichen Zeitraum die Elementaren Oden (1954), die Neuen Elementaren Oden (1956). Was für ein Feuerwerk poetischer Huldigung der Natur, welche wunderbaren Einblicke in Gärten, Felsenlandschaften, Meerestiefen, Oden auf Tiere, berühmte Dichter und Farben! Ein Beispiel belegt seine einmalige Position als Naturdichter, der gleichsam alle Elemente miteinander zu verbinden weiß: „Großer Bienenschwarm! /Ein und aus fliegt er, /aus dem Karminrot, dem Blau, / Dem Gelb, / der zartesten Zartheit der Welt: /Einzieht er in / eine Blumenkrone / voll Hast, / Geschäfte zu treiben, / und kommt hervor / mit goldenem Kleid / und einer Unzahl / gelblicher Stiefel.“ (Bd. II, S. 712, Übersetzung: Erich Arendt). Es gehört zu den wunderbaren Einsichten in die Dichtung Nerudas, dass in ihr der Naturbegriff einer Reihe von Wandlungen ausgesetzt war. Manuel Duran und Margery Safir haben in ihrer Monografie „Earth Tones. The Poetry of Pablo Neruda“ (Bloomington 1981) fünf Perioden herausgearbeitet. In der vierten Periode, die mit dem Canto General einsetzt, „sucht Neruda die Natur in ihrem Urzustand. Er versucht die anfängliche Unschuld wieder herzustellen, das verlorene Paradies, er taucht in die urzeitliche Welt, in der Pflanzen und Tiere erst im Begriff sind, zu entstehen. … In diesem Band definiert Neruda einen einzigartigen Zugang zur Natur: die Personifizierung der Natur, dann und wann ihre Mystifizierung, Naturpoesie als Erzählweise wie auch als Beschreibung.“ (S. 72)
Und in der fünfte Periode? In den sprachmächtigen Zyklen Memorial von Isla Negra (1964), Die Hände des Tages (1968), Weltende (1969), Beben des Meeres (1970) wie auch in den postum publizierten Die abgeschnittene Rose (1974) und Das gelbe Herz (1974), Das Meer und die Glocken (1974) wie auch sein kleiner hellsichtiger Zyklus 2000 (1974) spürt ein sensibler Neruda-Leser, wie der über Jahrzehnte in seinem Werk entwickelte Evolutionsstrang der Natur abbricht und die intensive Betrachtung der einzelnen Elemente einsetzt. Die Steine aus Chile, Der Gesang der Vögel individualisieren sich, der brennpunktartige Blick auf die einzelnen poetisierten Gegenstände öffnet die Perspektive auf einen ursprünglichen Zustand der Welt vor der Erfindung der Buchstaben. In einer „paradiesischen“ Welt also, in der nach Neruda die Poesie wie Brot war, das die Bauern sich mit den Gelehrten geteilt haben.
Doch Pablo Neruda war auch, ungeachtet seiner zeitweiligen ideologischen Verblendung, ein großer weiser Dichter, der ein bitteres Resümee von seinem Jahrhundert geliefert hat. In ‚Die Masken’ aus 2000 (1974) sagt er: „Habt Erbarmen mit diesen Jahrhunderten und mit /denen die glücklich / oder geschunden sie überlebten; was wir nicht schafften, / war niemandes Schuld, es fehlte am Stahl, / wir verbrauchten ihn für so viel nutzlose Zerstörung, / für die Bilanz besagt dies alles nichts: / Die Jahre litten an Pusteln und Kriegen, / hinfällige Jahre, wo die Hoffnung / auf dem Grund der feindlichen Flaschen zitterte / … / ich schäme mich, wir haben die Scheu von Witwern: es starb die Wahrheit, sie ist verwest in so vielen Gräbern.“ (Bd. III, S. 677, Übersetzung Monika López).
Dieses Spätwerk ist ein Füllhorn der Weisheit, der Einsichten in die unerbittliche, grausame Geschichte, deren Zeuge Pablo Neruda auf drei Kontinenten war. Die in freien Rhythmen gestalteten Verse öffnen Blicke auf Felder, auf denen die Sieger der Geschichte wechselnde Masken tragen und als gewissenlose „Volksführer“ Millionen blindwütig in immer neue Unglücke gestürzt haben. Solche Erkenntnisse verdichten sich seit Mitte der 1960er Jahre, als Neruda als Mitglied der KP Chile einerseits den Befreiungskampf der Bauern und Arbeiter gegen das spätfeudalistische Regime im eigenen Land mit aller Kraft unterstützt, andererseits die Repressionsmechanismen der kommunistischen Staaten in Europa immer deutlicher wahrnimmt. Auch aus diesem Grund unterscheiden sich die Gedichte Ausgewählte Mängel (1974) aus dem Nachlass des Dichters von dem poetischen Werk der 1960er Jahre. Es sind ironisch-sarkastische, oft aphoristisch verkürzte Gedanken, die gleichsam aus dem Jenseits die einstigen Zeitgenossen bewerten, ihre Torheiten noch einmal in den Blick nehmen, wie in ‚Hier muss ich durch’: „Was für ein heiler, heilverheißender Genosse! / Runde um Runde dreht er in der Arena / meiner Republik, und mir scheint, / das Lächeln müsse ihm längst vergangen sein, / vom Bretterpodest gefallen, vom Fahrrad, / auf den Stierkampfplatz, in den Weltkampfring, / größer noch unter dem politischen Licht, / aber nein, keineswegs: immer der Unbeirrbare, / der Tadellose mit dem strahlendem Gebiß.“ (Bd. III, S. 836, Übersetzung: Monika López).
Das hier vorliegende Werk von Pablo Neruda, das keine Werkausgabe ist, präsentiert auf knapp 3000 Seiten ein bislang einmaliges Zeugnis einer sprachmächtigen Dichtung, die das 20. Jahrhundert in all seiner Dynamik und Vielschichtigkeit, seinen Irrtümern und Grausamkeiten erfasst. Die jedem Band beigefügten Namen und Daten können deshalb nur annähernd die historischen Bedingungen und persönlichen Umstände verdeutlichen, die in den mehr als zwanzig Gedichtzyklen die wesentlichsten inhaltlichen Komponenten bilden. Doch sie bilden die Stützpfeiler, an denen sich Neruda-Leser orientieren können, wenn sie mit wachsender Empathie und Lust die meist adäquat übertragenen Verse rezitieren. Denn laut, mit leidenschaftlicher Gestik und Mimik sollten sie gelesen werden. Der Meister wird ihnen auf jeden Fall zuhören, wie er bereits in der Parodie auf einen Kämpfer andeutete: „Ich seh euch doch von hier oben, / lauft ja ganz täppisch ohne meine Füße, / ohne meinen Ratschlag.“ (Bd. III, S. 845, Übersetzung: Monika López).
Gedichte aus dem Nachlass
Unter den zahlreichen Publikationen des Luchterhand Verlags aus der Sammlung Pablo Neruda spielt die vorliegende Ausgabe eine besondere Rolle bei dem Bemühen um eine angestrebte vollständige Publikation aller Gedichte des chilenischen Nobelpreisträgers. Darío Oses, Leiter der Bibliothek und des Archivs der Fundación Pablo Neruda in Santiago, begründet in der Einleitung zu den nachgelassenen Gedichten diesen Anspruch wie folgt. Die 1986 gegründete Fundación widme sich der Aufgabe, die von der Witwe des Dichters Matilde Urrutias zusammengetragenen Manuskripte zu bewahren und zu schützen. Im Falle der hier erstmals veröffentlichten einundzwanzig Gedichte aus dem Nachlass von Neruda, die ihr bei der Durchsicht aller Manuskripte entgangen waren, handelt es um meist handgeschriebene Texte, die in verschiedenen Heften, auf Einzelblättern und sogar auf einer Speisekarte entdeckt wurden. Alle Gedichte, die aus unterschiedlichen Jahren stammen, sind in einem ausführlichen Anhang beschrieben. Fünf Gedichte aus diesem Bestand, abgedruckt auf einem hellen ockerbraunen Hintergrund, schmücken als Faksimiles den eindrucksvoll gestalteten Gedichtband. Auffällig ist dort der rasch dahineilende Duktus seiner Handschrift, die verhältnismäßig geringen Streichungen und die wenigen Hervorhebungen von Worten, deren Etymologie auf Toponyme oder Choronyme verweisen. Die meisten Faksimiles bezeugen einen Gedankenstrom, der die metaphernreichen „Bilder“ scheinbar mühelos über das Papier schweben lässt. Verweisen solche Vermutungen auf das Bekenntnis des Dichters, viele seiner Poeme habe er seiner Matilde gewidmet? Schon der erste Blick auf den Text Nr. 1 bestätigt diese überlieferte Aussage von Neruda.
Deine Füße fasse ich im Schatten, deine Hände im Licht, / und im Flug leiten mich deine Adleraugen / Matilde, die Küsse, die dein Mund mich lehrte,/ lehrten meine Lippen das Feuer./ … / als ich meine Ohren an deine Brüste legte, / verkündete mein Blut* deine araukanische Silbe.“ (S. 15)
Das Zeichen * erfährt an dieser Stelle die Anmerkung unlesbar. Das laut Kommentar zwischen 1959 und 1960 entstandene Liebesgedicht enthält leider keinen deutenden Verweis auf die „araukanische Silbe“, die auf eine balladenartige Dichtung der spanischen Renaissancezeit anspielt.
Den ersten sechs Gedichte, die das Merkmal ‚Liebesgedichte‘ tragen, folgen „andere Gedichte“, in denen unterschiedliche Topoi auftauchen. Sie sind unter anderen einem jungen Dichter gewidmet, warnen vor den leeren Eitelkeiten, mit denen auch reife Dichter überhäuft werden, enthalten poetologische Reflexionen, setzen sich mit der überbordenden Reiselust der reichen Chilenen und dem Verzicht der armen Landsleute auf ferne Länder auseinander. Sie poetisieren sogar nach der Nachricht von den ersten Weltraumflügen sowjetischer Kosmonauten den „reinen Weltraum / zwischen den Sternen, fein und feucht“ (S. 76).
Die Gedichte 8 bis 12 gehören in den Bereich der vielfältigen, umfangreichen Oden-Dichtung, die Nerudas Ruhm begründet hat. Sie erfassen ausgewählte Augenblicke, in denen Naturelemente ihre Pracht entfalten. Dazu gehört auch die Apotheose auf menschliche sichtbare Organe wie im Gedicht Nr. 10: „Wundervolles Ohr, /doppelter / Schmetterling / höre / dein Lob/…“ (S. 47). Oder das Gedicht Nr. 14, in dem das lyrische Ich von einem Pflanzenpferd spricht, von dem sich die „wohlerzogenen Leute“ nicht rechtzeitig verabschieden, weil „der Mensch ist beschäftigt heute / betrachtet nicht den tiefen Wald/“ (S. 55).
Das einzige mit einem Titel versehene Gedicht „An die Anden“ widmet sich der bizarren Bergwelt rund um den Aconcagua, dem höchsten Gipfel in Südamerika, beklagt den Trauerflug der Kondore, singt aber auch ein Loblied auf die Chilenen, die im Frühlingserwachen auch ihren nationalen Stolz wieder finden. Die zu Beginn der 1950er Jahre entstandene elementare Ode greift, wie Darío Oses betont, die wiederholt im Werk Neruda auftretenden Themen wie Berglandschaft, Bergbau und die Insel Isla Negra auf. Sie zeugen nicht nur von der Vielseitigkeit seines Schaffens, sondern auch von dem klassenbewussten Engagement für die Ärmsten unter den Chilenen. Dieser wesentliche Aspekt seines dichterischen Schaffens kommt in den nachgelassenen Gedichten kaum zum Tragen. Möglicherweise aber sind solche Texte während der Durchsuchung seines Domizils auf der Isla Negra zu Beginn des Militärputsches gegen Präsident Allende in den Septembertagen des Jahres 1973 beschlagnahmt und später vernichtet worden. Eine solche These von der gezielten Vernichtung bestimmter Aspekte des dichterischen Werkes würde auch auf die offizielle Stellungnahme der Militärjunta über die Todesursache des Dichters verweisen. Pablo Neruda sei an Prostatakrebs gestorben. Eine Diagnose, die in den Oktobertagen des Jahres 2017 durch eine internationale Ärztegruppe widerlegt worden ist. Ihr Untersuchungsergebnis enthält einen eindeutigen Befund: Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1971 ist während seines Krankenhausaufenthaltes im September 1973 vergiftet worden. Die auf der Originalausgabe Barcelona 2014 „Tus pies toco en la sombra“ beruhende deutschsprachige Übertragung der Gedichte von Susanne Lange wie auch die Einführung in das schwierige Feld der Quellensuche und die Bewahrung des wertvollen dichterischen Erbes durch den Leiter des Archivs der Fundación enthalten noch keinen Hinweis auf diese äußeren Umstände bei der Rettung von Manuskripten. Eine Feststellung, die möglicherweise in der nahen Zukunft durch weitere faits accomplis korrigiert wird. Auf jeden Fall liegt mit dem ornamental gestalteten und durch Faksimiles dokumentierten Band ein weiteres Zeugnis für die poetische Meisterschaft aus dem Nachlass von Neruda vor, dessen Gedichte von der Nachdichterin Susanne Lange getreu und mit viel Empathie übertragen worden sind.
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Die Gedichte / Band 1-3 von Pablo Neruda · Karsten Garscha (Hg.), Übersetzer: Erich Arendt, Katja Hajek-Arendt, Stephan Hermlin, Monika López. Luchterhand 2009 · 2928 Seiten
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie
→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie
→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.
→ Lyrik lotet das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen aus. Ein Wort steht nie für sich allein, durch eine vielperspektivische Sicht werden immer auch andere Begriffe einbezogen.