Zuweilen erzeugt das Gerücht des Nichtvorhandenseins womöglich den eigentümlichen Ruch der Präsenz. Über einen Autor gilt es zu sprechen, der laut Ulrich Bergmann, der in einer Laudatio einen eingehenden Blick auf die Arbeit eines solchen Einzelgängers wirft, gar nicht ›anwesend‹ ist, sich vielmehr in ein anderes Reich der Sichtung und Auffassung begeben, nein: zurückgezogen hat, in dem viele der Wahrnehmungen, wenn nicht sensibilisiert, dann aufgehoben sein können und im besten Fall eine neue, dem Gewohnten widerstrebende Seite offenbaren. Einer der außergewöhnlichsten Dichter der spätsilikatischen Wolfszeit ist Holger Benkel, der dem Schweigen des ihn Umgebenden das beredte Schweigen einer vor Farben, Schatten, Versteinern, Ende flirrenden inneren Welt entgegensetzt. Und sich dabei in den Hiatus zwischen Leben und Tod versetzt findet – in seiner Lyrik schildert der Dichter das Leben, das sich aus dem Tod gebiert, sich von ihm nährt und in den Tod zurückkehrt, sei es in Gestalt einer Fliege, eines Käfers … eines höheren Welt-Wesens gar.
flugschrift
bin ich im aas geboren wachs ich
in gerüchen schwillt mein leib
goldgrün verbreite ich krankheiten
wie das schriftzeichen nachrichten
vertreibt mich weihrauch nicht
lockt mich kein pfeffer
verführt mich abgekocht mit milch
allein der pilz der seelen nährt
rettet mich kein flügel verhärte ich
zur spur im mehl werd ich
ein fossil überleb ich in der brust
dem freien platz für alle wunden
Weniges erschreckt einen so wie das vitale Spiel mit dem Tod. Bei Benkel ist es Teil des Gegenentwurfs – das Mahlen der Beißwerkzeuge im Insektenstaat, Metapher für den Verfall und den Neubeginn in einem, verfolgt uns in diesem Buch mit dem, was die Texte wie auch ihren inneren wie äußeren Gestus betrifft, tautologischen Titel „meißelbrut“ nicht gebets-, eher knochenmühlenartig. Es ist das Mahlen der Dinge, die sich von der Anderswelt her spiegeln … mögen sie eine dunkle Gaukelei sein oder eine wirkliche Alternative. Holger Benkel, ein im mehrfachen Sinne ‚Dichter der Endmoräne‘, der seine irdischen Tage in Schönebeck an der Elbe, in der Nähe von Magdeburg, zubringt, taucht in seinen Texten und Briefen (die, wie man später sehen wird, Teil seines Werks sind) in einen Kosmos ein, der einem so eng wie atemberaubend weitläufig zugleich erscheinen muß, daß man sich in ihm verliert oder von ihm permanent ausgeschlossen bleiben muß. Der Dauerfrost der Desillusion ist hier schon nicht mehr Angriffsfläche, sondern bereits das Substrat der Erhebung.
So wie der Permafrost die Dinge bewahrt und zerstört zugleich, mag man die Wirkung dieser Gedichte beschreiben. Man geht in ihrem Klang und Rhythmus auf und ab, findet sich ein bei den Strudeln der Bilder, aber man bemerkt auch die Verhärmtheit an Hoffnung, das Bestehen auf Verlorenheit in ihnen, und man bleibt wieder und wieder bestürzt zwischen den Seiten zurück. Eine seltsame Statik durchweht diese Texte, die, wenn es nicht eine so unmögliche wie unproduktive Spielerei mit diesem Begriff gegeben hätte, konkret im eigentlichen Sinne genannt werden könnten. Anders als bei den ‚Entbilderungen‘ eines Nico Bleutge gehen hier Ding und Metapher ineinander über, was eine Art Strenge erzeugt, wie man sie gemeinhin in der Lyrik anders verstehen möchte – eine Art Unabdingbarkeit der Verlorenheit, eine, was befremdlich sein mag, Einsetzung und Feier der Depression … die dem Nach-Pop wie auch dem Krisengeklimper entgegensteht, weil sie ungerührt die tatsächliche Krise verhandelt: das Entferntsein von den wirklichen Fragen, den schönen Schein in der Nichtigkeit.
In den wirklichen Fragen ist Holger Benkel unerbittlich und nah an den Gegebenheiten, nicht selten bis in die Anmutung des Sarkasmus. Viel augenfälliger aber ist – korrespondierend mit einer starken Farb- und Todesmetaphorik – das Beschwören eines lebhaften Stillstands, eines letzten und stoischen Sichtens von Leichterung auf der anderen Seite. Nur vereinzelt ist diese Dichtung mit Ironie durchsetzt: abseits des weges nur beginnt / das reich der geister / wer noch was werden will / der warte am waldrand … (wald); von den flächig-urwüchsigen Holzschnitten Sabine Kunz’ flankiert, ergibt sich in vier Durchführungen ein Blick auf eine so trübe wie grell verheerte Zeit, daß einen schaudern mag. Vom Schaben und Wispern der Kerf-Metaphern ausgehend, werden die Motivfelder ‹Körper‹, ›Landschaften‹, ›Dinge‹ und – in gewisser Hinsicht an das Äußerste möglicher Vers-Alchemie getrieben – ›Substanzen‹ durchstreift, belichtet und … für verhandelbar erwogen. Es ist dies der Blick auf einen von Aussichten entkernten Stoff, wie er flügelschlagend und malmend in sich selbst versinkt.
meißelbrut
bin ich ganz form im übergang
zwischen kopf und leib komm ich
aus rissiger erde will ich immer fort
züngeln die ähren im tanz des korns
wie ein loderndes feuer wimmle ich
am ursprung der saat schaff ich
eine brut in der gestalt meiner zahl
die zeugt läutet der mond
tropft aus dem licht mir das wort
Benkels neue Gedichte folgen in einem Abstand von sage und schreibe vierzehn Jahren seinen ersten beiden Büchern kindheit und kadaver sowie reise im flug. Symptomatisch, daß die Erstlinge in den Wirbel eines über Nacht aufgegebenen Verlags gerieten – der Autor war so etwa zehn Jahre, trotz Georg-Kaiser- und Preis des Literaturforums Ludwigsburg, ganz ohne Buch unterwegs. Ein Spätzuentdeckender, immerhin feiert der Autor in diesem Sommer seinen fünfzigsten Geburtstag, ist er dabei dennoch nicht – die Wertschätzung eines kleinen Klientels von Literaturenthusiasten und ›Unverbesserlichen‹ war ihm stets gewiß. Es ist dies ein Klientel übrigens, das die Existenz von meißelbrut, monetär wie ideell, erst ermöglicht, ein Umstand, wie er neuerdings nicht selten zu beobachten ist. Dankenswerterweise, wie man betonen muß, denn ansonsten wäre das Buch womöglich in der suche nach dem ort ohne grund steckengeblieben. Ein blasser Trost: Wie sich der öffentliche Blick aus der Hege seiner originären Talente zurückzieht, so wird später von ihm vielleicht zu künden sein.
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meißelbrut. Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009.
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Demnächst → Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013