Die Variation der Variation

 

Der Jerusalemer Autor Elazar Benyoëtz hat inzwischen über 30 deutschsprachige Aphorismenbände vorgelegt. Enthielten die ersten nach dem Debüt 1969 vornehmlich „Einsätze“, so wechseln sich in den späten kürzere und längere Textformen ab. Zudem lässt Benyoëtz seit Treffpunkt Scheideweg (1990) in Zitaten die Stimmen religiöser, philosophischer und sprachkritischer Denker wie Ludwig Wittgenstein, Fritz Mauthner, Margarete Susman oder Paul Engelmann zu Wort kommen.

Der im Herbst 2009 bei Braumüller publizierte Band Scheinhellig. Variationen über ein verlorenes Thema, welcher Susman, Engelmann sowie Erwin Loewenson gewidmet ist und sich auf den ersten Blick unauffällig in das Alterswerk einreiht, ist durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet. Zum einen handelt es sich um sein erstes Buch in einem Verlag mit Sitz in Österreich, also in jenem Land, das Benyoëtz, der 1937 in Wiener Neustadt geboren wurde und 1938 mit seiner Familie nach Tel Aviv flüchtete, als „das fernste“ gilt. Zum anderen erschien bereits 1997 im Hanser Verlag ein Aphorismenband, der den Untertitel des vorliegenden als Obertitel trug. Gemäß seinem Anspruch „die Bücher müssen immer wieder geschrieben werden“ konnte es Benyoëtz nicht bei unwesentlichen Änderungen belassen. Schon der Gesamtumfang hat sich um rund die Hälfte erweitert.

„Ungläubig ist, wer sich seine Zweifel zugute hält“ (S. 225), einer der neu aufgenommenen Aphorismen, ist ein Glanzlicht, das völlig zu Recht als Zyklusüberschrift kursiv hervorgehoben steht. Dass typische Gegensatzpaare wie Glaube und Zweifel sich als aphoristische Sujets eignen, ist eine weit verbreitete Annahme. Das Problem dabei: Sie ist nicht einmal falsch. Jedoch führt solcherlei Verwendungslogik zu Simplifikationen. Schon die vorschnelle Gewissheit, dass zwischen Glaube und Zweifel ein bloßer Gegensatz besteht, engt den Blick ein und macht es schwer, geistiges Neuland zu erschließen. Auch in dieser Hinsicht kann man von einem „verlorenen Thema“ sprechen. Innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsaphoristik, die ohnehin unzureichend rezipiert wird, sind es bezeichnenderweise eher die unbekannteren Vertreter, etwa Paul Mommertz, Michael Rumpf, Stefan Brotbeck, Jürgen Große oder Jacques Wirion, die in diesem Themenkreis zuweilen Benyoëtz’ Niveau erreichen. Im zitierten Beispiel geht es ihm um die ungläubige Haltung: Sie beweist sich eben nicht in den Zweifeln selbst, sondern im Stolz auf diese. Setzt man für Zweifel die ihnen z zugrunde liegende Ratio ein, so wird eine unterschwellige Kritik am allgemeinen Wissenschafts- und Erkenntnishochmut vernehmbar, die diesem Aphorismus eine zunächst nicht erwartete Aktualität verleiht.

Inwiefern ist Benyoëtz ein provokanter Autor? Barsche Worte findet man bei ihm nur selten. Eine Ausnahme bildet das Credo auf S. 83, doch auch hier gleicht der Gedankengang einem – durchaus reizvollen – Umweg. Statt eine Absage an das moderne ‚selbstverwirklichte’ Subjekt zu formulieren, das munter Pläne schmiedet, unterminiert er dessen Machbarkeitsdünkel: „Erwartungen sind der Pöbel im Reich der Hoffnung.“

Eine provokante Wirkung auf manche Leser entfaltet, obgleich nicht so intendiert, möglicherweise Benyoëtz’ Auffassung von Sprache. Im Einklang mit der jüdischen Tradition gilt sie ihm als die Quelle der gesamten Schöpfung. Wie schon im Band Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche (2001) zitiert er aus dem Midrasch, der rabbinischen Bibelauslegung, zum ersten Buch Mose: „Gott schaute in die Tora und schuf die Welt nach diesem Plan. Auch Gott muss sich am Buch orientieren“ und knüpft hier direkt an: „Sprache – das ist der Baum des Lebens, der über Nacht zum Baum der Erkenntnis auswuchs“ (S. 37). Das läuft jeder kruden Kommunikationstheorie zuwider, die Sprache zum bloßen Austauschmedium zwischen Sender und Empfänger reduziert, und die wohl eher dem intellektuellen Zeitgeist entspricht als Benyoëtz’ Sprachmagie.

In Keine Worte zu verlieren (2007), der Festschrift zum 70. Geburtstag, weist Kurt Oesterle zu Recht darauf hin, „dass nicht nur die Religion das ‚verlorene Thema’ ist, sondern auch die Sprache, eine genaue und wahrhaftige…“ Der Aufgabe, „ihr zu ihrem wahren Sinn zu verhelfen und sie vor bloßer Bedeutungsträgerei zu schützen“, ist sich Benyoëtz wie kaum ein anderer Aphoristiker bewusst.

 

 

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Scheinheilig, Variationen über ein verlorenes Thema. Aphorismen von Elazar Benyoëtz. Braumüller 2009

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.

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