Gute Kunst macht einen sensibler, schlechte stumpft einen ab.
Daniel Richter
Die Verweisungszeichen zur Poesie haben Peter Valentin so zugesagt, daß er ihn – wie auch die beiden anderen Essays, in seiner Literaturzeitschrift Eremitage veröffentlicht hat. Wir leben, wenn man den gängigen Theorien glauben darf, in einer Wissensgesellschaft, einer Gesellschaftsformation in hochentwickelten Ländern, in der individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation vermehrt zur Grundlage des sozialen und ökonomischen sowie des medialen Zusammenlebens werden.
Was ist eigentlich Wissen?
Unter dem Titel „Über die Schulmeisterei“ kann man bei Michel de Montaigne folgendes lesen: „Ich kenne einen, der, so oft ich ihn frage, ob er dies oder jenes weiß, ein Buch von mir verlangt, um es mir darin zu zeigen, und sich nicht getrauen würde, mir zu sagen, er habe die Krätze am Hintern, ohne auf der Stelle im Lexikon nachzuschlagen, was Krätze ist und was Hintern.“ Um zu verdeutlichen, was er sagen will, fügt Montaigne erläuternd hinzu:
Wir nehmen die Gedanken und das Wissen anderer in Obhut, und das ist alles. – Wir müssen sie uns aber zu eigen machen.
Diese Montaignesche Unterscheidung erscheint wegweisend: der Gegensatz zwischen totem Buchwissen und einer lebendigen, neue Informationen, Methoden und Perspektiven ins eigene Selbst– und Weltverstehen integrierenden Intelligenz. Was Wissen erst wirklich vital macht ist die Fähigkeit, selbständig mit ihm umzugehen. Vertiefendes findet sich in Weigonis Essay Produktorientiertes medienpädagogisches Arbeiten mit Jugendlichen, in dem er seine literaturpädagogische Arbeit beschreibt.
Poesie ist das Bekenntnis zum freien, selbstbestimmten Menschen.
Welche labyrinthischen Gedankengänge bei diesem Auswahl– und Transformationsprozess durchlaufen werden, wie schnell ein brauchbarer Gedanke zu Abfall und Nebensächliches fruchttragend werden kann, beschrieb Weigoni in seinen Reflexionen über das Gedichte-Schreiben: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie. Die Schriftzeichen führen ein Eigenleben, das nicht erlischt, wenn sie überformt werden; Schreiben bleibt palimpsistisch. Der Begriff ´Poesie` leitet sich vom griechischen Wort poiesis ab, das so viel wie Dichtkunst oder das Dichten heißt, die ursprüngliche Bedeutung lautet genau genommen das Verfertigen. Im Deutschen spricht man statt von der Poesie meistens von der Dichtung, gemeint ist damit insbesondere die Versdichtung. Philosophie und Poesie treten bei Weigoni in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt.
Schreiben ist ein vom Körper nicht ablösbarer Akt, in dem der Schreibende mit der weißen Fläche des Papiers und den darauf gesetzten Zeichen eins wird.
Die Schrift: nicht eigentlich Ausfluss, sondern selbst Glied, nicht eigentlich nur Spur, sondern spürbar Teil des Körpers, nicht eigentlich niedergelegt, sondern immer noch in Beziehung zum Körper als stets wachsender generativer Faden, den der Schreibende sein Leben lang hervor spinnt. Sein eigenes offenes Ende.
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Im Herbst 2009 wurde A.J. Weigoni der Preis des Forums Literatur Ludwigsburg zugesprochen. Zur Verleihung kam es wegen einer schweren Erkrankung des Herausgebers Peter Valentin nicht mehr. Ulrich Bergmann erinnert an diesen verdienstvollen Herausgeber und Verleger.
Weiterführend → Manche Betrachtungen erinnern vor der Ferne besehen an die „Flaneurstexte“ der 1920-er Jahre, die als „Reproduktion von Großstadterfahrung“ gelesen werden können, z.B. wenn der Autor eine Fahrt zum Flinger Broich beschreibt. Auch die „kurzessayistische Feuilletonprosa“ kommt in einer Auseinandersitzung mit den Beach Boys nicht zu kurz. Diese Passagen wirken beinahe wie eine Hommage Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der Konsumkultur. Als „kulturkritische Kurzessayistik“ kann man daher eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung lesen.
→ In seinem Vorlass bündelt Weigoni die Motive seines Schreibens in einem vielstimmigen Buch. In diesem Band findet sich die dekonstruktive Auflösung der mehr oder weniger strikt gezogenen Grenzen zwischen Elite- und Massenkultur, zwischen Literatur und Wissenschaft, Kunst und Publizistik. Simultanität ist ein gefährlicher Reichtum, die Überfülle von Gelerntem und flüchtig Aneigbarem, führt zur Abstraktionen. Jeder Essay von Weigoni für sich genommen schlägt mit einer beinahe unerträglichen Leichtigkeit einen Bogen von einem winzigen, eigentlich belanglosen Phänomen zu einer fundamentalen Frage des Menschseins.
Nachtrag: Im engeren Wortsinne versteht man Revision als Sichtung und Prüfung. A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht die Redaktion diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn.